Die Abgeordneten des UK debattieren gerade über die Austrittsvereinbarung, die ihre Regierung mit der EU verhandelt hat. Gastautor John James, ein britischer Politologe, erläutert in einem auf bachheimer.com erstmals erschienenen Text die Deklaration des Agreements und die jüngsten Wendungen. Am Dienstag wird abgestimmt.
Das zweite Element der Rückzugsvereinbarung ist die
Politische Erklärung
zu den Künftigen Handelsbeziehungen zwischen dem UK und der EU.
Das jetzt veröffentlichte Dokument ist größtenteils mit der Guideline identisch, die der Europäische Rat im März 2018 veröffentlicht hat, Es ist 26 Seiten lang und in einer vagen, optimistischen und idealistischen Sprache gehalten, bar jeder Substanz.
In ihm drücken die EU und das UK ihren Wunsch nach einer ambitionierten und weitreichenden Partnerschaft nach dem Ende der Übergangsperiode aus.
In manchen Bereichen wollen die beiden Partner das auf internationales Recht oder auf bestehende Beziehungs-Modelle zwischen EU und Drittstaaten gründen. Anderswo sollen neue Modelle der Zusammenarbeit gefunden werden. Eins wird sofort klar:
Es war in den vergangenen 24 Monaten nicht möglich ein Agreement zu finden. Jede künftige Vereinbarung kann nur nach jahrelangen, politisch heiklen und detaillierten Verhandlungen erreicht werden.
Am wichtigsten aber ist die Tatsache, dass das Vereinigte Königreich keine Garantie über den erfolgreichen Ausgang dieser Verhandlungen hat. Jede verhandelte Vereinbarung bräuchte Zustimmung nicht nur aus dem UK, sondern auch vom Europäischen Rat und dem EU-Parlament.
Dieses Verhandlungsergebnis versetzt das UK in eine nachteilige Position. Der Sieg, den die EU eingefahren hat, wurde durch die unrealistische Problemlösung erleichtert, die Theresa May im Sommer 2018 im sogenannten Chequers-Plan angeboten hat.
Der Chequers-Plan beruhte im Wesentlichen auf der unplausiblen Idee, dass ein gemeinsames Zollgebiet geschaffen werden könnte, in dem UK auf europäische Waren freiwillig weiter Zölle und regulatorische Standards der EU anwendet und durchsetzt, während es einen eigenen Rahmen für Zölle und regulatorische Standards für den britischen und den Weltmarkt entwickelt.
May hoffte, dass dies Checks und Kontrollen an den Grenzen zwischen UK und EU unnötig machen würde.
Dieser Plan löste, als er im Kabinett präsentiert wurde, den Rücktritt von Außenminister Boris Johnson und anderen Regierungsmitgliedern aus. Vom Europäischen Rat wurde er auf dem desaströsen Gipfel von Salzburg im vergangenen September zurückgewiesen.
Der letzte Text der Politischen Erklärung über die Künftigen Handelsbeziehungen fasst Checks und Kontrollen an den Grenzen zwischen dem UK und der EU ausdrücklich ins Auge.
Damit ist klar, dass der Chequers-Plan, auf den sich Theresa May so versteift hat, nicht von der EU akzeptiert wird. Im Gegenteil. Die Endversion der Erklärung stellt fest, dass jede künftige Handelsbeziehung auf den Backstop-Vorschlägen aufbauen wird.
Schlussfolgerungen
Die Rückzugsvereinbarung ist für das UK schlecht – das Ergebnis schlechter politischer Entscheidungen durch die Regierung in London, aber auch von politischen Realitäten außerhalb ihres Einflussbereichs.
Diese schlechten Entscheidungen (“choices”) beginnen mit dem Entschluss der Regierung Cameron, eine Volksabstimmung abzuhalten ohne jegliche Planung für die potenziellen Konsequenzen eines Votums über den Austritt aus der EU.
Nach dem Sieg bei der Volksabstimmung und Rücktritt David Camerons offenbarten die Brexit-Befürworter eine unerwartete und folgenschwere politische Schwäche innerhalb des britischen politischen Establishments. Sie waren nicht in der Lage, einen Befürworter des Brexit als Nachfolger Camerons zu installieren.
Stattdessen übernahm Theresa May, eine Befürworterin der EU-Mitgliedschaft des Landes, die Regierung und die Aufgabe, den Rückzug Britanniens aus der EU durchzuführen.
Zu viele Menschen haben übersehen, dass diese Aufgabe die Festlegung einer bestimmten Verhandlungsstrategie und einer Neuorientierung des Landes, die als Verhandlungsziel dient, voraussetzt.
Es fiel Theresa May zu, diese Strategie und diese Neuorientierung aus ihrer politischen Überzeugung heraus zu bestimmen und in eine politische Realität zu verwandeln.
Viele Briten fragen sich, ob das politische Establishment Grossbritanniens klug gehandelt hat, als es Theresa May zur Premierministerin kürte. Theresa May hat mindestens zweimal bewiesen, dass ihr strategische Urteilsfähigkeit fehlt.
2016 hatten die Konservativen eine klare Mehrheit im Parlament. May rief für 2017 unnötigerweise Parlamentwahlen aus, die sie verlor.
Um eine Regierung bilden zu können war sie gezwungen, eine Koalition mit der DUP einzugehen. Die parlamentarische Abhängigkeit von der DUP hat dieser und der Nordirland-Frage insgesamt disproportional großen Einfluss auf die Verhandlungen mit der EU gegeben.
Ihr zweiter Fehler bestand darin, auf den Chequers-Plan zu bestehen, obwohl dieser sowohl in ihrer Regierung als auch in der EU auf Opposition stieß.
Sie schaffte es nicht, Chequers doch noch durchzudrücken, hatte aber keinen eigenen „backstop“, keinen Plan B für den Fall, dass Chequers scheitert.
Gleichzeitig hat die Regierung ihre Augen vor bestimmten politischen Realitäten geschlossen.
Sie stellte zu wenig in Rechnung, dass Britannien eine Mittelmacht war, die mit einem internationalen Machtblock verhandelte und dass dieser Block entgegen den britischen Hoffnungen entschieden einig blieb – während das UK und dessen Regierung im Inneren gespalten waren.
Und schließlich war Britannien 2017 verzweifelt bemüht, (irgend)eine Rückzugsvereinbarung zu bekommen um einen „harten Brexit“ zu vermeiden. Deshalb war das UK von Beginn weg in der schwächeren Verhandlungsposition.
Die Rückzugsvereinbarung hat für Britannien beträchtliche Kosten.
Sie verwandelt es in einen Vasallenstaat Europas, vergrößert das Misstrauen zwischen Belfast (Nordirland), Cardiff (Wales), Edinburgh (Schottland) und London (England). Sie vergrößert auch das Gefühl der Entfremdung vom politischen Establishment, das viele Brexiteers verspüren.
Die Konservative Partei ist gepalten und der Deal könnte desaströse Folgen für die Einheit von dieser Partei, Britanniens „natürlicher Regierungspartei“, haben.
Die Rückzugsvereinbarung löst kein einziges fundamentales Problem, das die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU aufgeworfen hat. Sie bietet weder Klarheit noch Garantien für die künftigen Beziehungen zwischen Britannien und der EU.
Am erstaunlichsten aber ist, dass Britannien anscheinend bereit ist, seine politische Vertretung in der EU aufzugeben – während man sich gleichzeitig großen Teilen des EU-Rechts unterordnet.
Das wäre eine selbst gewählte Beschränkung der Handlungsfähigkeit des National- und Verfassungsstaates. Es gibt in der modernen Geschichte kein Beispiel für ein Land, das sich auf diese Weise freiwillig selbst entrechtet.
Wo stehen wir also? Es scheint unvorstellbar, dass das Britische Parlament für eine solche Vereinbarung stimmt.
Wenn der Deal vom Parlament akzeptiert wird, ist es unwahrscheinlich, dass Britannien zu einem späteren Zeitpunkt genug Kraft finden würde, um aus dem Backstop auszubrechen. Nun heißt es: Jetzt oder Nie.
Wird sich das Britische Parlament am 11. Dezember gegen die Rückzugsvereinbarung entscheiden?
Wenn es das tut, bleiben zwei realistische Optionen:
- Ein harter Brexit auf Basis einer einfachen Vereinbarung, mit der Flugverkehr, Nahrungsmittelimporte und Sozialversicherungszahlungen erhalten bleiben, so lange bis Britannien einen gesetzlichen Rahmen geschaffen hat, mit dem es die enorme Masse europäischen Rechts ersetzen kann.
- Die britische Regierung zieht ihr Ansuchen auf Ausscheiden aus der EU zurück und bittet die EU um die Zustimmung in der Union verbleiben zu können. Es ist eine interessante Frage, unter welchen Umständen die EU einen „Exit vom Brexit“ akzeptieren würde. Das britische Establishment nimmt an, dass so etwas vonstatten gehen könnte – ohne dass sich das Arrangement von vor dem Juni 2016 verändert. Diese Annahme könnte sich als weitere britische Fehlannahme herausstellen.
Nachbemerkung
Seit der Entstehung dieses Artikels haben zwei signifikante Entwicklungen stattgefunden, die “das Spiel” wesentlich verändert haben und die vielleicht einen Ausweg aus dem Zustand der Unentschlossenheit und der Nötigung weisen, in die die May-Regierung Volk und Parlament gebracht hat.
Es sieht so aus, als würde das britische Parlament seinen Glauben an die May-Regierung verlieren und davor stehen, seine Autorität geltend zu machen
Für viele, die Angst vor einem Brexit ohne Abkommen mit der EU haben, die ebenso aber gegen die Rückzugsvereinbarung sind, wäre ein Widerruf von Artikel 50 (dem Austrittsansuchen) der attraktivste Weg – ein Zwischenschritt, bis eine bessere Lösung gefunden worden ist.
Entwicklung Nummer 1
Am Morgen des 4. Dezember, dem ersten Tag der Parlamentsdebatte über die Rückzugsvereinbarung, erklärte der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofes aus Anlass einer laufenden Klage, UK habe das Recht sich vom Brexit zurückzuziehen, wenn es unilateral sein Ansuchen um einen Austritt aus der EU nach Artikel 50 zurücknimmt.
Dies bedeutet, dass diese Zurücknahme auch ohne die Zustimmung der anderen EU Mitgliedstaaten oder der EU selbst erfolgen könnte.
Die Meinung des Generalanwalts ist zwar nicht endgültig, es kommt aber sehr selten vor, dass das ganze Gericht seine Empfehlung umstößt. Der endgültige Spruch durch das Richterkollegium wird für die nächsten paar Wochen erwartet.
Diese Erklärung war wesentlich, weil sie bedeutet, dass das britische Parlament die Macht hätte, einen harten Brexit (= “ohne Deal”) zu stoppen – selbst wenn es die von Premierministerin May verhandelte Rückzugsvereinbarung niederstimmen würde.
Entwicklung Nummer 2
Am Nachmittag desselben Tages hat das britische Parlament eine Abänderung (Amendment) zum EU-Rückzugsgesetz 2017 verabschiedet.
Der Withdrawal Act von 2017 bevöllmächtigt die Regierung des UK, Artikel 50 (des EU-Vertrags) zu aktivieren. Das Gesetz bestimmt ferner, wie die Regierung formal vorgehen darf, wenn sie Britannien aus der EU führt.
Das Amendment vom 4. Dezember will dem Parlament die Kontrolle über die Zeit nach der Abstimmung über den Brexit-Deal verschaffen.
Da es zunehmend unwahrscheinlicher scheint, dass das Parlament der Rückzugsvereinbarung zustimmt, werden die Abgeordneten des zutiefst gespaltenen Unterhauses immer besorgter, was in den nächsten Wochen passieren wird.
Laut dem EU Withdrawal Act muss die Regierung nach 21 Tagen einen Antrag im Parlament einbringen, in dem sie ihre Pläne darlegt (ein Antrag – motion – ist kein Gesetz, sondern eine Absichtserklärung).
Im besagten Act war ursprünglich ein Mitspracherecht des Parlaments nicht vorgesehen.
Die gerade verabschiedete Novelle dazu stellt sicher, dass der Antrag der Regierung durch Parlamentarier verändert werden kann.
Es wird gehofft, dass das Parlament auf diese Weise die Regierung davon abhalten kann, einen Brexit „ohne Deal“ und ohne Zustimmung der Abgeordneten anzunehmen oder einen selbst ausgedachten „Plan B“ durchzudrücken.
Eine Änderung des Antrags der Regierung durch das Parlament hätte zwar keine bindende Wirkung auf die Regierung, wäre aber ein starke Demonstration des Willens des Parlaments und würde dem Plan der Regierung de facto eine Absage erteilen.
Wir dürfen den Umstand nicht vergessen, dass die Mehrheit der britischen Abgeordneten dafür ist, dass das Land in der EU bleibt.
Die Stimmung im Lande, insofern man die folgenden Meinungsumfrage für glaubwürdig erachtet , könnte diese parlamentarische Mehrheit ermutigen, das Withdrawal Agreement am 11. Dezember abzulehnen und im Januar 2019 die Rücknahme des Austrittsansuchens zu erzwingen.
Eine Anfang Dezember von IQR durchgeführte Meinungsumfrage für die den Austritt befürwortende Organisation “Global Britain” zeigt, dass mehr Leute in der EU bleiben als auf Basis des May-Deals austreten wollen.
25 Prozent meinten, dass der May-Deal das bestmögliche Ergebnis gewesen sei, 32 Prozent optierten für einen Austritt ohne Deal und 41 Prozent glaubten, dass ein Verbleib in der EU der bessere Weg sei.
Bild: UK government [OGL 3 (http://www.nationalarchives.gov.uk/doc/open-government-licence/version/3)], via Wikimedia Commons
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