Helen Pluckrose und James Lindsay nehmen in einem neuen Buch eine Bestandsaufnahme & Dekonstruktion jener Ideologien vor, die als “Kritische Theorie” zunehmend die Agenda sozialwissenschaftlicher Fakultäten, die Politik sg. Demokratien sowie die de facto-Politik großer Konzerne bestimmen. Von “Kritik” im Stil des Skeptizismus der Gründerväter ist nicht viel übrig geblieben. Die Traktate aktivistischer Gelehrter seien zu pseudoreligiösen Gewissheiten sozialrevolutionären Zuschnitts verkommen, führen die Autoren aus.
“Cynical Theories” beginnen mit den intellektuellen Gründervätern der 1960er ff., namentlich Michel Foucault, die den “Stamm” der Theorie geliefert haben
- die Theorie mit großem T, wie die Kritische Theorie hier auch in Englisch bezeichnet wird (um sie vom generischen Begriff theory abzusetzen).
Es folgt die Phase des “applied postmodernism”, etwa zwischen 1990 und 2010, angewandt im Sinn von “Theorien die der Revolution dienen”:
Postcolonial und Critical Race Theory, Queer Theory, Intersectional Feminism sowie – als Nachzüger – Disability Studies (Behinderte) und Fat Studies, die den Übergewichtigen, speziell weiblichen, gewidmet sind.
Das macht die Kapitel 2-7 aus, den Korpus des Bandes.
Diese studies gleichen den Ästen des Baums.
In der Chronologie von Lindsay und Pluckrose beginnt danach die Ära der “reifizierten”, verdinglichten Theorie,
für die auch der Sammelbegriff “Social Justice Scholarship” verwendet wird. Gewissermaßen seien dies “die Blätter“.
“In dieser Inkarnation” verwandle sich der epistemische Skeptizismus der frühen Jahre in den Anspruch reale, objektive Wahrheit zu verbreiten . Es entstehe ein eigenes “umfassendes Meta-Narrativ”
- eine Wahrheit, an der Kritik zu üben verboten sei,
Truth According to Social Justice“
eben.
Wende in den Dogmatismus
Weiße Männer könnten sowieso keine (legitime) Kritik üben, weil deren Gruppenidentität “falsches Bewusstsein” geradezu garantiere. Weiße Männer litten an einer Art Farbenblindheit, durch die sie Realität wenigstens teilweise nicht erkennen könnten.
Doch auch weibliche Angehörige von Minderheiten zeigten im Dissens (bestenfalls), dass sie die Theorie zu wenig genau gelesen oder nicht recht verstanden hätten (im schlimmeren Fall handelt es sich um Kollaborateure – “Uncle Toms” unterschiedlichster Ausprägung.)
Thou shalt not Disagree with Theory”,
lautet ein ironischer Zwischentitel des Pluckrose-Lindsay-Texts..
Hier sei das Stadium eines geschlossenen Glaubenssystems erreicht – einer gesicherten Wahrheit, die keine Abweichung tolerieren müsse.
Die Theorie, interpretieren Pluckrose & Lindsay, könne schon deswegen nicht geleugnet werden, weil sie von ihren Verfechtern als real aufgefasst werde.
Zwar könne sich (relevanter) Dissens aus der (angeblich) durchlebten/durchlittenen Erfahrung von Minoritäts-Angehörigen entwickeln
- es stelle sich in dem Fall allerdings die Frage, ob die widersprechenden Erfahrungen als “authentisch” anerkannt würden.
Im Rückblick sehe es jedenfalls so aus, als ob die Theorie zielgerichtet alte, westliche Meta-Narrative dekonstruiert habe um Platz für eine neue “säkuläre Religion” zu schaffen.
Dieser letzten Phase der Social Justice-Gelehrsamkeit, so die Autoren, wohne ein spezieller Hang zu politischem Aktivismus und zur Ausschaltung Andersdenkender inne.
Foucaults Erbe
Trotz alledem gibt es “Kontinuität”.
Auch zeitgenössische Postmodernisten, die eine Generation von Foucault entfernt sind, berufen sich auf zwei Prinzipien und vier Themen, die in der Zeit der “Gründerväter” entstanden sind, nämlich:
- das epistemische postmoderne Prinzip (“Es gibt keine objektive Wahrheit und Wissen ist sozial konstruiert”) sowie auf
- das politische Prinzip der Theorie (“Gesellschaft konstituiert sich durch Wissen, das in Diskursen angeordnet ist, die die Mächtigen mächtig und die Unterdrückten unterdrückt halten”, ursprünglich wenigstens).
Diese Prinzipien sind das Fundament von vier sich über Jahrzehnte hinziehenden Standard-Themen (Verschwimmen von Grenzen, Macht der Sprache, Kultur-Relativismus, Verlust des Individuums und des Universalen).
Das vorletzte Kapitel schließlich widmet sich dem mysteriösen Siegeszug der Theorie an den Universitäten – und darüber hinaus, beispielsweise “bei Film & Fernsehen ” oder in der Unternehmenskultur großer Firmen, speziell im Kommunikationsbereich.
Dort werde immer öfter “defunded” und “gecancelt”, was den Imperativen der Theorie widerspreche.
Im Hinblick auf die kollektive Mentalität hätten sich Kulturen des Kuschelns und der victimhood eingeschlichen, die künftige Generationen fragiler und “lebensunfähiger” machten,
erläutern Lindsay & Pluckrose unter Berufung auf kürzlich erschienene Bücher.
Die richtige Antwort auf die Herausforderung durch die Theorie bestehe freilich weder in Repression noch im Entzug von Finanzierung bzw. Förderung
- der Staat habe sich nicht in die Lehre der Universitäten einzumischen.
Die “richtigen Antworten” sei einerseits die Verhinderung der Institutionalisierung der Theorie (wobei die Autoren reichlich vage bleiben),
sowie andererseits selbstbewusste öffentliche Gegenargumentation,
aus Warte eines prinzipientreuen Liberalismus,
zunächst eines epistemischen Liberalismus, der kein “Meta-Narrativ” sei, sondern ein offenes, sich selbst korrigierendes System, das auf Empirie, vernünftiger Argumentation und “rigoroser Wissenschaft” beruhe.
Die großen Erfolge bei der Gleichstellung von Rassen, Geschlechtern und Homosexuellen hätten in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts liberale Bewegungen eingefahren,
doch knapp nach diesem Triumph sei die Theorie eingeritten, die mit ihrer fast krankhaften Idiosynkrasie und ihrem Katastrophismus nun alles wieder zunichte zu machen drohe -
über einen backlash der Mehrheitsgesellschaft, die absehbar auf die Provokationen der Theorie reagieren werde.
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