Mit der wahrscheinlichen Wahl Jean-Claude Junckers zum Kommissionspräsidenten wird die EU einen Mann auf den Schuld heben, der sich routinemäßig der politischen Lüge bedient. Doch im Unterschied zu anderen Politikern bekennt sich Juncker offensiv zur Täuschung der Öffentlichkeit.
Der folgende Text ist die weitgehend unveränderte Wiederholung des ersten Blog-Posts von Anfang März, als Juncker von den europäischen Christdemokraten nominiert wurde. Der Text zeigt, dass es hier nicht um vereinzelte Notlügen geht. Das System Juncker ist das System EU. So gesehen gibt es tatsächlich keinen geeigneteren Kandidaten für die Kommissionspräsidentschaft.
In seinen Anfällen von Ehrlichkeit legt er Luxemburger “Geständnisse” ab, die 99 Prozent seiner Kollegen, nicht einmal in schwachen Stunden über die Lippen bringen würden. Nicht einmal in Situationen, in denen sie sich sicher sein können, dass sich kein Aufzeichnungsgerät im Raum befindet.
Die berühmteste Aussage zum Thema ist schon mehr als zehn Jahre alt.Sie ist aber keineswegs veraltet. Der Sager charakterisiert wie kein anderer üble Spiel, das die heutigen, “demokratisch gewählten Politiker” mit ihren Wählern treiben. Das Zitat lautet folgendermaßen:
“Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert (…) Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.” Spiegel 52/1999
Was Juncker hier beschreibt, hat weder etwas mit seiner Weltanschauung noch mit seiner Person zu tun. Es ist auch keine Frage der “Modernität” oder dass der Mann ein “Gesicht aus den Achtigerjahren” wäre.
Er führt hier das Prinzip vor, nach dem EU-Politik funktioniert und funktionieren muss – wenigstens so lange es Mehrheiten gegen die Ziele der Regierenden gibt (und solange diese Mehrheiten noch erforderlich sind – wenigstens theoretisch).
Das Einzigartige ist, dass der ehrliche Lügenbaron den Imperativ der Unwahrheit im Abstand von ein paar Jahren ehrlich zugibt bzw. zwanghaft zugeben muss. Warum das so ist, weiß keiner.
Die europäistischen Lügen scheinen auch nichts mit den “branchenüblichen” Schwindeleien zu tun zu haben. Sie haben Methode, eine, die sogar einen eigenen Namen hat. Dieser lautet “Méthode Monnet”. Diese wird im 7. Kapitel meines Texts näher analysiert.
Bei der Méthode Monnet handelt es sich – vereinfacht gesprochen – um eine Art Guerillakampf von politischen Funktionären, die glauben, einen besseren “Durchblick” zu haben als der unverständige Normalbürger und die daraus das Recht ableiten, unmoralisch handeln zu dürfen – schließlich passiert das angeblich nur zum Besten des Volks.
Ihr Herzstück besteht darin, dass Regierungspolitiker in nichtöffentlichen Absprachen Handlungen setzen und Verpflichtungen eingehen, deren Folgen nicht mehr rückgängig zu machen sind – auch nachdem die Entscheider schon lang aus dem Amt ausgeschieden sind. Mit einer solchen Geheimpolitik werden bewusst Sachzwänge geschaffen, die die Bevölkerung der Mitgliedsstaaten auf Generationen verpflichten – meist ohne dass die Regierten wissen, dass überhaupt eine solche Entscheidung ansteht. Es ist, als würde ein Treuhänder ohne Absprache mit seinem Auftraggeber eine wichtige Entscheidung treffen und sich damit ausreden, sein Treugeber verstehe von der Sache ohnehin nichts.
Die Grundlage dieser Politik sind „im Konsens getroffene Elitenentscheidungen”, wie das ein Kenner der “Méthode” ausdrückt. Praktisch alle EU-Fraktionen einschließlich der europäischen Liberalen und Grünen handeln auf diese Weise.
Es ist aber wiederum nur Juncker, der das zugibt. 2011 sagt er in einer Podiumsdiskussion:
“Ich bin für geheime Beratungen unter einigen wenigen Verantwortungsträgern.” “Wenn es erst wird”, fügt er hinzu, “musst du lügen.”
Juncker spricht hier von einer konkreten Situation, in der sich vor allem die EU-Finanzminister oft befinden – sobald sie nämlich vor einer Entscheidung stehen, von der die Finanzmärkte betroffen sind. Wenn diese den Beschluss vorzeitig spitz bekommen, können sie sich den negativen Folgen dieser Entscheidung entziehen – zu Lasten der Allgemeinheit.
Das ist ein altes Argument, das schon in den 1990er-Jahren benutzt wurde. Dabei wird nahegelegt, als handle es sich in der Mehrzahl der Fälle um erlaubte Notlügen. Der frühere deutsche Finanzminister Theo Waigel pflegt als Beispiel Entscheidungen anzuführen, die die EU-Finanzminister während des sogenannten ersten Wechselkursmechanismus treffen mussten. Bei oft am Wochenende durchgeführten geheimen Treffen beschlossen die EU-Finanzminister an dem Mechanismus teilnehmende einzelne Währungen abzuwerten.
Wäre das vorzeitig bekannt geworden, hätte dies zu massiven Spekulationen zu Lasten der Benutzer dieser Währungen geführt. Waigel will in seiner Gewissensnot sogar den späteren Papst Benedikt XVI gefragt haben und dieser soll geantwortet haben, der Politiker dürfe in dieser Situation gar nicht die Wahrheit sagen. Es sei keine Sünde zu behaupten, er würde am Wochenende wandern gehen, obwohl er doch an einem Ministertreffen in Brüssel teilnehme.
Vielleicht hat Kardinal Ratzinger das gesagt und wenn, dann wird sich das mit der katholischen Lehre schon decken – Ratzinger war ja nicht von ungefähr Chef der Glaubenskongregation. Das konkrete Verhalten in dieser konkreten Situation ist auch nicht anstößig oder umstritten. Es gibt niemanden, der dafür nicht Verständnis hätte.
Freilich geht es in der großen Mehrzahl der Fälle gar nicht darum. Der Begriff “die Finanzmärkte” ist in diesem Zusammenhang eine Nebelgranate, die das eigentliche Ziel der systematischen Lügerei verschleiert. Das wahre Anliegen besteht darin, Entscheidungen gegen den Willen und die Interessen der Mehrheitsbevölkerung zu treffen, ohne dass diese das mitbekommt und sich erhebt.
Entscheidungen wie die über die Einführung des Euro im Jahr 1998, die noch Waigel bzw. sein damaliger Chef Helmut Kohl getroffen haben. Ein Beschluss gegen eine massive Mehrheit in Deutschland. Dessen waren sich die handelnden Politiker völlig bewusst, wie Kohl ein Paar Jahre danach in einem Interview für eine Dissertation zugab:
„Ich wusste, dass ich ein Referendum in Deutschland nie gewinnen könnte (…) Wir hätten eine Volksabstimmung über die Einführung des Euro verloren. Es ist ganz klar, dass wir mit 70 zu 30 verloren hätten.“
Foto: European People’s Party, Wikimedia Commons
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