In Großbritannien ist die Stunde der Juristen angebrochen – oder soll man besser sagen: die halbe Stunde? Der Gordische Knoten, der sich mittlerweile um die Großthemen Souveränität und EU-Austritt gebildet hat, ist aber nicht mit dem juristischen Skalpell zu lösen. Er bedarf eines Schwerts, am besten allgemeiner Wahlen.
Wie überall in der Mainstream-Journaille zu lesen ist, hat ein schottisches Berufungsgericht, die prorogation, Vertagung des britischen Parlaments für unzulässig erklärt, wogegen der Premier, der diese in die Wege geleitet hat, den Supreme Court anrufen wird
(“Zwangspause” übrigens so wie “gesetzlicher Zwang”. Sessionen werden im Londoner Parlament seit ein paar Jahrhunderten mit einer prorogation beendet – im Regelfall freilich mit einer 1 – 2 Wochen kürzeren).
Wie in der kontinentalen Journaille dagegen nicht zu lesen ist, sieht es mittlerweile so aus, als bedürfte die Benn-Bill, die dem PM aufträgt, bei der EU um eine Verlängerung bis 31. Jänner 2020 anzusuchen, des Consents ( ≠ Assents) der Queen, die traditionellerweise wiederum so agiert wie es der Premierminister wünscht.
Wie und warum das so liegt, argumentiert Robert Craig, ein Spezialist für die britische Verfassung, hier, auf der Seite der London School of Economics.
Ob Craig nun recht hat, oder nicht - verstehen tut das alles kein Mensch mehr.
Von außen betrachtet und von einem, den das alles im engeren Sinn nichts angeht:
Warum, bitteschön, handelt man nicht so wie überall, wo eine Regierung ihre parlamentarische Mehrheit verloren hat?
Auch das House of Commons selbst war in Sachen Brexit bisher nicht eben ein Ausbund an Klarheit.Vielleicht kann sich ein neu gewähltes Parlament ja ein wenig klarer positionieren.
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Ja, es besteht das Risiko bzw. die Chance, dass Boris Johnson die Neuwahlen gewinnt und die nächste Legislaturperiode in der Downing Street 10 wohnt – mit oder ohne Mitwirkung Nigel Farages.
Es kann aber durchaus sein, dass Labour die Nase vorn hat und z.B. mithilfe der Liberaldemokraten und der Schottischen Nationalpartei eine Mitte-Links-Regierung bildet.
Ist es womöglich so, dass die Labour-Partei, die bis vor einer Woche stereotyp nach Neuwahlen gerufen hat, plötzlich von derAngst vor dem Wähler erfasst wurde?
Wie hier angedeutet, sind die innenpolitischen Frontverläufe im Königreich auf paradoxe Weise verwordagelt.
Das Unterhaus, in dem die Remainer in der Mehrzahl sind, versucht dem Premier seinen Willen aufzuzwingen – vermeidet es jedoch, auf seine Souveränität als Institution zu pochen.
Es erklärt stattdessen: Wir, das House of Commons, sind in unserer heutigen Zusammensetzung der Chef.
Die MPs selbst scheinen (mehrheitlich) aber keine Neuwahlen zu wollen.
Johnson, der Regierungschef dagegen, will Neuwahlen und betreibt damit die Selbstbehauptung jener Institution, die ihm momentan solche Schwierigkeiten macht und die (angeblich) seine Verhandlungsposition gegenüber Brüssel so schwächt.
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Danke an Nick für den Hinweis!
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