Zwei junge Moralphilosophen, einer aus Texas und einer aus Ohio, sezieren in einem neu erschienenen Text den Missbrauch der zeitgenössischen moralischen Rede und nehmen mit ihrem Grandstanding offenkundig (aber nicht explizit ausgewiesen) die Heuchelei einer bestimmten Sorte Gutmenschen aufs Korn. Wie Molière 350 Jahre vor ihnen bewegen sich die Autoren zwar auf den (quasi)religiösen, “weltanschaulichen” Grundlagen ihrer Zeit, kritisieren aber den heuchlerischen Umgang damit.
Klar ist Grandstanding keine Barock-Komödie, sondern ein akademischer Text und die USA des Jahres 2020 sind nicht das Frankreich Ludwig XIV.
Und natürlich sind Tosi & Warmke vorsichtig – vorsichtiger als Molière,. dessen Drama fünf Jahre lang nicht an der Zensur vorbei kam.
Tosi & Warmke scheinen weder Lust zu haben sich von aufgehetzten Studis dissen zu lassen noch möchten sie sich ihre akademische Karriere versauen.
Mal sehen, ob ihnen das gelingt.
“Grandstanding” ist ein Begriff, der sich einer einfachen Übersetzung entzieht. Gemeint ist so etwas wie Effekthascherei, (zeitgenössische) Frömmelei, Großsprecherei, Tugendsignalisiererei oder Selbsterhöhung mit Mitteln der politisch-moralischen Rede.
Nichts davon trifft’s ganz, aber jeder einzelne Begriff tut das fast.
Es ist auch nicht so, dass Traditionalisten, Republikaner etc. “vom Haken gelassen” würden.
Die kriegen auch ihr Fett ab, etwa wenn sie sich empören, wenn Ex-Präsident Obama mit einem Pappbecher in der Hand nur schlampig salutiert (Karl Rove: “Wie respektlos ist das denn?”).
Aber primär sind ganz andere gemeint – das geht klar aus dem Kontext hervor (und auch aus der überwiegenden Mehrzahl der angeführten Beispiele: z.B. “Ballkleid im China-Stil – kulturelle Appropriation”, berechnend-verzweifelte Urschreie bei der Angelobung Donald Trumps etc.)
Dabei bedienen sich die beiden Philosophen ausgiebig bei individual- und sozialpsychologischen Analysen anderer und verweben diese zu einem Gesamtbild (was “völlig OK ist” solange zitiert wird usw.).
Moralphilosophie mutiert so zu einer Art Querschnittskompetenz, zum Integrator eines Dutzends anderer Wissenschaftszweige.
Neben den “analogen Campussen” sind heute die social media von zentraler Bedeutung. Sie sind der digitale Ort, wo einerseits die politisch-moralische Eigenprofilierung und andererseits das Kesseltreiben gegen ideologische Devianten stattfinden.
Calling out, meinen die Autoren, sei nur in bestimmten, eng begrenzten Einzelfällen zulässig – aber mutmaßliche Heuchler müssen nicht auch noch bestätigt werden (kein “Thumbs up” for grandstanders mehr).
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Molières Tartuffe wirkt dem gegenüber, als wäre das Lustspiel unendlich weit von den heutigen politisch korrekten Öffentlichkeiten auf Facebook oder Twitter entfernt
- aber dieser Eindruck täuscht. Hier wie da geht es um die ganz reale Macht Tartuffes – und seiner vielen kleinen Klone im Zeitalter der Sozialen Medien.
Justin Tosi, Brendon Warmke, Grandstanding: The Use and Abuse of Moral Talk. 2020
Bild: Wiki Commons (Public Domain)
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