Der Madrider Regierungschef könnte mit ungleich größerer Berechtigung als Kanzlerin Merkel erklären, “dass der Islam zu unserem Land gehört” – schließlich wurden große Teile Spaniens 500 Jahre von einer muslimischen Theokratie beherrscht. Dass die historischen Fakten kaum etwas mit den gut gesinnten Fantasmen gemein haben, die bis heute über Al Ándalus verbreitet werden, hat ein US-Professor 2016 in einem Buch voller Kollegenschelte beschrieben.
The Myth of the Andalusian Paradise, der z. B. hier erworben werden kann, steht in der Tradition einer Debatte, die wenigstens bis in die Zeit der (“historischen”) Aufklärung zurück reicht.
In deren Zentrum befand und befindet sich das “ultramontane Spanien” der Neuzeit, das bis heute als Inbegriff eines steifen, antiliberalen und nicht aufgeklärten Absolutismus gilt.
Der äußere Feind, den die spanischen Königreiche des Mittelalters überwinden mussten um zu einem modernen Einheitsstaat zu verschmelzen, waren die Herrschaftsverbände, die aus der islamischen Invasion von 711 hervorgegangen sind (der letzte dieser Staaten, Granada, kapitulierte erst 1492, der Kampf war aber spätestens in der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts entschieden).
An diesen politischen Gebilden haben sich über die vergangenen 200 Jahre westeuropäische Kirchenkritiker, Arabisten und Marxisten abgearbeitet und dabei das Bild einer frühen pluralistischen Gesellschaft gezeichnet;
einer Gesellschaft, in der unter der Obhut weiser Kalife Kunst und Wissenschaft blühten und in der “unten” jede Bevölkerungsgruppe nach eigener Façon glücklich werden konnte – multireligiös, multikulturell, divers – ja, sogar permissiv, wie manche meinten.
Unsinn, urteilt Darío Fernández-Morera von der Northwestern University in dem hier besprochenen Text (der übrigens zur Hälfte aus Fußnoten und Hinweisen auf wissenschaftliche Literatur besteht).
Oder – um es unwissenschaftlich, grobianisch, aber unmissverständlich auszudrücken: Der Autor fährt seinen akademischen Kollegen und anderen Erzählern des Märchens von Al Ándalus mit dem Hintern ins Gesicht.
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Fernández schwingt den Hammer des Mythenzerstörers und zerschlägt dabei, was unter unter Journos und populärwissenschaftlichen Autoren, in Reiseführern und im Schulunterrricht zum Allgemeingut geworden ist.
Ob dieser Mythos auch auf Fehlern und Voreingenommenheiten seines Berufsstandes gründet, ist eine Frage, die der Autor mit eindeutig ja beantwortet.
Ob er dabei immer fair vorgeht und nicht z.B. unzulässig vereinfacht, interessiert vor allem die Angegriffenen selbst (die Fernández, sozusagen als Retourkutsche, mangelnde Sachkenntnis attestieren).
Die Angegriffenen tun jedenfalls, als hätten sie keinerlei Anteil an der Legendenbildung um Kalifat & Co. und beteuern, sie hätten sich nie auf die von Fernández geschilderte Wiese ausgedrückt.
Nobody in the academic world seriously talks about medieval Spain as ‘an Andalusian Paradise.’”
Das mag “buchstäblich” stimmen – ändert aber keinen Deut an Fernández grundsätzlichem Befund:
Few periods in history have been more misrepresented than that of Islamic Spain.”
Dass dieses Urteil nicht aus der Luft gegriffen ist, lässt sich schon an den Zitaten ablesen, die Fernández jedem Kapitel voranstellt (aber auch an von Fachhistorikern geschriebenen Büchern).
Für den Autor des Andalusischen Mythos war die Invasion von 711 jedenfalls
- keine sukzessive Migration (wie machmal dargestellt), sondern ein Heiliger Krieg – ein Dschihad gegen das westgotische Königreich von Toledo, der zusätzlich von durchaus diesseitiger Beutelust von erst kürzlich zum Islam bekehrten Berber-Kriegern angetrieben wurde;
- ein echter Krieg jedenfalls, der zur Zerstörung einer auf römischen Fundamenten ruhenden, zivilisatorisch überlegenen Gesellschaft führte und
- zu einem über Jahrhnuderte sich hinziehenden Großen Austausch von Kultur, Religion und Bevölkerung.
- Das, obwohl den Anhängern anderer “Buchreligionen” (Christen, Juden) eine gewisse Autonomie ihrer religiösen Gemeinschaften gewährt wurde – unter der Voraussetzung, dass man sich unterwarf, in der Öffentlichkeit Demütigungen hinnahm und die Ungläubigensteuer bezahlte.
- Fragwürdig ist für den Autor, ob die post-omajadischen Königreiche (Taifas) tatsächlich das wichtigste “Einfallstor” des altgriechischen/arabischen Wissens nach Europa gewesen sind. F-M. weist darauf hin, dass griechische und hellenistische Texte schon in Konstantinopel direkt ins Lateinische übersetzt worden und dass andere im muslimischen Osten von Nicht-Arabern zuerst ins Syriakische und danach ins Arabische übertragen worden sind. Auch habe Averroës Aristoteles auf einer solchen zweifach übersetzten Basis kommentiert.
- Die heute viel beschworene convivencia der Konfessionen sei “kein tolerantes Zusammenleben, sondern eine prekäre Koexistenz” gewesen, schreibt er.
- nach dem Ende der Reconquista, nach Hunderten von Jahren also, hätten die Rückeroberer keine christlichen Dhimmis mehr vorgefunden, weil diese unter dem Druck der hegemonialen anderen Religion in die Königreiche des Nordens geflohen und des Landes verwiesen worden oder zum Islam konvertiert sind. Aufstände von Dhimmis oder neu bzw. scheinbar bekehrter Muladis stellten für das wissenschaftliche Establishment scheinbar kein besonders interessantes Thema dar (wie sonst überall), schreibt Fernández-Morera:
Such unsympathetic views of the martyrs of Córdoba are echoed today in the relative scholarly neglect of the Christian sources on the Islamic conquest as testimonies of the Christians’ loss—a neglect of the visión de los vencidos (“the views or testimony of the defeated”) not present, for example, in studies of the Spanish conquest of the Americas.”
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Belege für seine Dekonstruktion der Andalusien-Legende findet der Autor überwiegend in spanischer Sekundärliteratur, die Arabisten, Mediävisten und Archäologen in dieser Sprache publiziert haben – Wissenschafter, die in ihrem jeweiligen Fachgebiet Basisforschung über Al Ándalus betrieben haben.
Das kann Fernández nicht für sich beanspruchen – vielleicht von einer Ausnahme abgesehen (er arbeitet hauptsächlich über neuzeitliche Literatur).
Hier findet sich auch der Punkt, wo die beleidigten Kollegen glauben ansetzen zu können – indem man dem Mann etwa die entscheidenden Kompetenzen abspricht (“lack of expertise”).
Was sich angeblich im Verzicht auf diakritische Zeichen bei Koran-Übersetzungen zeigt oder darin, dass arabische Texte nicht im Original, sondern in Übersetzung verwendet werden.
So etwas sitzt, scheint man zu glauben.
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Ein fachfremder Außenstehender wie dieser Rezensent zieht aus diesen Sachverhalten freilich ganz andere Schlüsse:
- Dass es, erstens, von Spitzfindigkeiten abgesehen, nicht viel einzuwenden gibt.
- Zweitens – dass es für den Zweck der Publikation völlig ausgereicht hat, manche Primärquellen in Übersetzung zu lesen; dass Lektüre und Auswertung vorhandener Sekundärliteratur aber ein wesentliches Kriterium waren. Das hat der Autor, wie aus seinem Literaturverzeichnis hervorgeht, auch gemacht. Dort führt er etwa zur Hälfte nicht übersetzte, spanische Publikationen an. Während man Fernandez-Morera zutrauen darf diese zu verstehen, ist das bei seinen Kritikern mit Muttersprache Englisch nicht selbstverständlich.
- Und drittens, dass auch das Wissenschafts-Rudel sich nicht ganz ungestraft mit dem Hintern ins Gesicht springen lässt – was für den Außenstehenden freilich wenig relevant ist.
Immerhin scheint die Historiker-Zunft seit dem Fall Gougouenheim, den auch Fernández erwähnt, ihr Verhalten geändert zu haben.
Diese Subkultur hat eingesehen, dass es kontraproduktiv ist, Unterschriften gegen ein verirrtes Schaf zu sammeln oder großmächtig Petitionen zu verfassen, die in die allgemeine Öffentlichkeit dringen.
Derlei erzeugt nur Radau und lenkt zusätzlich Aufmerksamkeit auf das Ziel ihres akademischen Exorzismus.
Stein des Anstoßes war damals der französische Mediviävist Sylvain Gougouenheim, der in einem Buch ausführte, dass Aristoteles zuerst in einer christlichen Abtei im heutigen Frankreich ins Lateinische übersetzt worden sei (was natürlich die Vermittluungsleistung der mittelalterlichen arabischen Intelligentsia schmälert).
Schnell begannen seine Kollegen im Viereck zu springen – und nicht nur das. Sie knöpften sich Gougouenheims Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel auch vor, ganz genau.
Dabei wurde eine “mächtige Liste” von Fehlern und Ungenauigkeiten zutage gefördert (die meisten von ihnen nach dem Muster der fehlenden diakritischen Zeichen – siehe oben).
Delinquent Gougouenheim gestand diese seine Fehler schließlich auch ein, teilweise.
Seitdem gilt der Mann aber als so unzuverlässig, dass ihn selbst Wissenschaftsverlage nur mehr mit spitzen Fingern angreifen.
Das große Empörungssschauspiel sparte man sich nun bei dem für das Breitenprublikum viel wichtigeren aktuellen Buch von Fernández-Morera – warum auch immer.
Ein im Internet erscheinendes vereinzeltes Verrisserl einer Angehörigen der beleidigten academia musste ausreichen.
Literatur:
Darío Fernández-Morera, The Myth of The Andalusian Paradise. Muslims, Christians and Jews under Islamic Rule in Medieval Spain. 2016
Emmet Scott, Mohammed & Charlemagne Revisited. The History of a Controversy. 2012
Rolf Bergmeier, Christlich-abendländische Kultur. Eine Legende. 2016
Terence Lovat, Robert Crotty, Reconciling Islam, Christianity and Judaism. Islam’s Special Role in Restoring Convivencia. 2015
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