Brexit: Auf Messers Schneide

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Britisches Parlament

Die Abgeordneten des Vereinigten Königreichs debattieren gerade über die Austrittsvereinbarung, die ihre Regierung mit der EU verhandelt hat. Gastautor John James, ein britischer Politologe, erläutert die potenziellen Stolpersteine.

Vom 4. bis 10. Dezember berät das Britische Parlament über die Rückzugsvereinbarung (Withdrawal Agreement/WA), die Premierministerin Theresa May mit der EU verhandelt hat. Am 11. Dezember wird es darüber abstimmen.

Dieses Votum wird entscheiden, ob das Vereinigte Königreich die Vereinbarung ratifizieren oder sie zurückweisen wird.

Es ist eine der zwei wichtigsten Abstimmungen, die nach 1945 im britischen Parlament stattgefunden haben. Die andere war der Entschluss von 1972, dem Gemeinsamen Europäischen Markt beizutreten.

Viele Beobachter betrachten die aktuelle Debatte als ebenso bedeutsam wie die Norwegen-Diskussion 1940, als Neville Chamberlain aus dem Amt gewählt wurde, nachdem eine militärische Intervention in Norwegen fehlgeschlagen war.

Chamberlain wurde damals als Premierminister durch Winston Churchill ersetzt.

Die irische Frage

Vor der Analyse der Rückzugsvereinbarung ein paar Worte zur irischen Grenze, die auf den ersten Blick vielleicht unwichtig erscheint.

Irland war bis 1922 Teil des Vereinigten Königreichs, doch nach einem kurzen Bürgerkrieg verließ ein Großteil der Insel das UK, um eine unabhängige katholische Republik zu bilden.

Die nordirischen Protestanten waren militärisch und politisch aber so stark, dass das Territorium Teil des UK blieb. In Ulster (Nordirland) blieb jedoch eine beträchtliche nationalistische Minderheit bestehen.

In den 1970ern und ’80ern führte die IRA, die die irischen Nationalisten repräsentierte, eine terroristische Bomben- und Mordkampagne in Nordirland und auf dem (britischen) Festland.

Sie wollte damit politische Zugeständnisse erzwingen.

Als zweifelsohne positives Nebenprodukt der europäischen Integration kam es zur Karfreitagsvereinbarung des Jahres 1999 zwischen der britischen Regierung, den Ulster Unionists und der IRA.

Die IRA legte ihre Waffen nieder und erklärte, sie wolle nationalistische Ziele nur mehr mit politischen, verfassungskonformen Mitteln verfolgen. In Belfast wurde ein Regionalparlament etabliert.

Weil beide Länder Mitglieder der EU waren, wurde es durch die Karfreitagsvereinbarung möglich, die „harte Grenze“ zwischen Nordirland und der Republik Irland faktisch abzuschaffen.

Nationalisten konnten leben als befänden sie sich in einem vereinigten Irland, während Nordirland formal Bestandteil des Vereinigten Königreichs blieb. Der Brexit stellt eine potenzielle Bedrohung dieses modus vivendi dar.

Meines Erachtens ist das Motiv, warum die Briten eine „harte Grenze“ vermeiden wollen, kein primär wirtschaftliches.

Wenn Britannien die Zollunion der EU verlässt, muss es einerseits eine harte Grenze geben; wenigstens eine wie die zwischen Schweden und Norwegen oder Deutschland und der Schweiz.

Doch die Briten und Nordiren müssen fürchten, dass der (nordirische) Friedensprozess aus den Fugen gerät, sobald es eine harte Grenze gibt.

Sie müssen die Rückkehr von Gewalt und bewaffnetem Kampf befürchten, sowie die Rückkehr einer Mafia-ähnlichen Kriminalität (wie z.B. Drogenschmuggel und Erpressung), wohl unvermeidbare Begleiterscheinungen solcher terroristischen Aktivitäten.

Die EU kann diese Angst nutzen, indem sie insistiert, dass Nordirland in der Zollunion bleiben muss, während Großbritannien ( = UK minus Nordirland) die Zollunion verlassen darf.

Das würde bedeuten, dass Nordirland einerseits regulatorisch in die Wirtschaft der Republik Irland integriert wird, gleichzeitig aber von der anders regulierten Wirtschaft des Vereinigten Königreichs abgetrennt sein würde.

Das ist für die Democratic Unionist Party (DUP) und große Teile der Tories („Conservative and Unionist Party“) die derzeit die britische Regierung bilden, nicht akzeptabel.

Sollte es einem seltsam erscheinen, dass Nordirland in der Rückzugsvereinbarung eine so prominente Stelle einnimmt, dann sollte man den historischen Kontext im Hinterkopf behalten sowie den Umstand, dass Nordirland der EU während der Verhandlungen einen „Hebel“ in die Hand gegeben hat.

Nun zu den genauen Bestimmungen des Withdrawal Agreements (WA).

Es besteht aus zwei Teilen:

1.) Einem 585 Seiten langen, rechtlich verbindlichen Vertrag, der das unmittelbar dringendste Problem regeln soll – die Herausforderung eines ordnungsgemäßen Rückzuges des UK aus der EU per 29. März 2019. Das WA wird von der britischen Regierung und den anderen 27 Regierungen der EU unterstützt. Doch bevor die britische Regierung das Dokument unterzeichnen kann, muss das Britische Parlament dies erlauben.

2.) Einer politischen Erklärung, die die künftigen Beziehungen zwischen dem United Kingdom (UK) und der EU skizziert. Darüber wurde keine abschließende Einigung erzielt. Das Dokument umfasst lediglich 26 Seiten und ist nicht mehr als eine Absichtserklärung. Es ist für keine Seite rechtlich bindend. Es wird von den Regierungen beider Seiten unterstützt, ist genauso wie der Austrittsvertrag Inhalt der Debatte im Parlament des Vereinigten Königreichs.

Die endgültige Abmachung, die den rechtlich bindenden Vertrag und die politische Absichtserklärung umfassen wird, muss durch das Britische sowie das Europäische Parlament und die 27 (EU-)Mitgliedsstaaten in einem Treffen des Europäischen Rats gutgeheißen werden.

Liegt das vor, wird das WA ratifiziert und am 29. März 2019 implementiert.

Inhalt der Rückzugsvereinbarung

Über den Großteil der Rückzugsvereinbarung wurde im März 2018 Einigung erzielt, weswegen sich dieser Teil nicht mehr verändert hat. Die seit damals geführten Verhandlungen haben sich auf einige wenige Punkte konzentriert.

Die drei wichtigsten Gebiete, über die man sich im März 2018 nicht geeinigt hat, sind:

  1. die Rechte der in GB wohnenhaften EU-Bürger sowie die Rechte der in der EU wohnhaften Briten,

  2. dieÜbergangsperiode und
  1. der “irische Backstop“ (Notlösung)

Die Übergangsperiode und der Irische Backstop waren jene Themen, die im Vereinigten Königreich am stärksten kritisiert wurden. Die Vorschläge zu den Bürgerrechten sind im Gegensatz dazu von der jüngsten öffentlichen Debatte fast vollständig ignoriert worden – vermutlich, weil die davon Betroffenen im Ausland leben und zu Hause keine politische Lobby aktivieren können.

2016, als das Referendum stattfand, war das UK schlecht auf den Brexit vorbereitet, zum Beispiel was jenen regulatorischen Rahmen des öffentlichen und privaten Sektors betrifft, der die EU-Regulierungen würde ersetzen müssen – hinsichtlich Logistiken, Infrastrukturen und Verfassungsrecht.

Ein neues Regelwerk wird nach einem Austritt notwendig sein, um den Handel und die diplomatischen Beziehungen mit der EU und dem Rest der Welt neu zu definieren.

Um UK von widrigen Effekten abzuschirmen, die unmittelbar nach dem Austritt eintreten könnten, sieht der Vertragsentwurf eine

Übergangsperiode

vor.

In diesem bis 31. Dezember 2020 laufenden Zeitraum wird sich für Britannien nicht viel ändern.

Das Vereinigte Königreich wird bis dahin den EU-Regulativen unterworfen bleiben. Auch muss es in der Übergangsperiode – von ein paar Ausnahmen abgesehen – die neuen EU-Bestimmungen anwenden.

In der Übergangspreriode wird Großbritannien keine Vertretung in den Institutionen der EU haben; keinen Sitz im Europäischen Rat, keine Stimme im Ministerrat, keine Europa-Abgeordneten, keinen EU-Kommissar und keine Richter am Europäischen Gerichtshof (EuGH).

Eine solche untergeordnete Position ist sowohl von Befürwortern des Austritts als auch von „Remainern“ als Vasallenstatus beschrieben worden.

In Abweichung von den März-Vereinbarungen haben sich die Verhandlungspartner auf eine mögliche Verlängerung der Übergangsperiode verständigt. Das ist eine indirekte Anerkennung des Umstands, dass die zuvor vereinbarten 20 Monate dem United Kingdom nicht genug Zeit für einen Übergang lassen.

Die Übergangsperiode kann nur einmal verlängert werden. Die Verlängerung ist lediglich für eine fixe, noch nicht festgelegte Zeitperiode möglich, wahrscheinlich ein oder zwei Jahre. Eine Verlängerung bedarf der Zustimmung durch die EU. Während der Übergangsperiode muss das UK, ein Nettozahler, weiterhin zum EU-Budget beitragen.

Es kann weiter an EU-Programmen teilnehmen – aber zu den Bedingungen, die auch Drittländern offenstehen, also nur mit Zahlung einer zusätzlichen Gebühr.

Wenn es diesen Bedingungen zustimmt, wird das UK bis zum Ende der Übergangsperiode an diese gebunden sein.

Der Irische Backstop (“Notlösung”, “Plan B”)

Der Backstop für Irland („fallback procedure“) ist eine von beiden Seiten gegebene Garantie, dass es auf der irischen Insel nach dem Austritt aus der Zollunion und dem Ablauf der Übergangsfrist keine „harte Grenze“ geben wird; eine Grenze, die aus Zoll- und regulatorischen Gründen als nötig betrachtet werden könnte, um die physische Bewegung von Gütern zu überwachen.

Beide Seiten hoffen aber, dass die künftigen Handelsbeziehungen so ein Szenario überflüssig machen werden. Diese sollen den heutigen regulatorischen Rahmen ersetzen, der ausschließlich auf EU-Recht basiert.

Sollte bis Mitte des Jahres 2020 eine Einigung über die künftigen Handelsbeziehungen nicht absehbar sein, kann das Vereinigte Königreich, wie oben beschrieben, um eine Verlängerung der Übergangsperiode ersuchen.

Jedenfalls wird ein Backstop vonnöten sein, sollte die Übergangsperiode auslaufen, ohne dasss eine zufriedenstellende Vereinbarung über die künftigen Handelsbeziehungen zwischen UK und EU getroffen worden ist.

Das „Designen“ dieses Backstops war ein schmerzlicher Prozess. Die Probleme wurden dadurch vergrößert, dass die britische Regierung unterschiedlichen Gruppen verschiedene und miteinander unvereinbare Dinge versprochen hat.

Das Herzstück der Vereinbarung besteht in einer de facto-Zollunion zwischen der EU und dem gesamten Vereinigten Königreich. Dadurch gibt es keine Zölle auf den Handel zwischen den beiden Parteien.

Das löst auch wenigstens die Hälfte der irischen Grenzprobleme. Die (größte) Schwierigkeit mit dieser Zollvereinbarung ist aber, dass sie fast zur Gänze auf EU-Forderungen beruht.

Zum Beispiel

  • muss UK das Zollsystem der EU übernehmen, wenn es mit Drittländern handelt.
  • muss UK eine Reihe von Minimalstandards zu Staatshilfen für Firmen respektieren.
  • muss UK die EU-Regulative u.a. in den Bereichen Wettbewerb, Umwelt, und Arbeitsschutz akzeptieren um ein „ebenes Spielfeld“ zwischen britischen und EU-Firmen zu ermöglichen.

Noch wichtiger ist, dass Backstop eine Zollvereinbarung ohne ein definitives Ablaufdatum ist.

Die Vertragsparteien mögen hoffen, den Backstop durch eine bessere Vereinbarung zu ersetzen – aber niemand kann garantieren, dass das auch passieren wird.

Eine Partei könnte in Wirklichkeit sogar verhindern, dass der Backstop ersetzt wird.

Die britische Regierung hat sich zwar ausbedungen, den Backstop zu überprüfen – aber es bleibt Tatsache, dass jede Veränderung oder eine Beendigung des Backstops der Zustimmung durch die EU bedarf.

Befürworter eines harten Brexit nehmen daran Anstoß. Für sie ist es eine Frage des Prinzips, jede Art von Zollunion zwischen dem Vereinigten Königreich und der Union zu vermeiden. Sie sehen den Backstop als eine Fortsetzung des Vasallentums, das durch die Übergangsvereinbarung entstanden ist.

Der Backstop beschränkt die Fähigkeit Großbritanniens, unabhängige Handelsvereinbarungen mit Drittländern einzugehen, wie z.B. US-Präsident Donald Trump vor einer Woche aufgezeigt hat.

Er verhindert auch jede Deregulierung einer sozialen und wohlfahrtsstaatlichen Schutzgesetzgebung – selbst nach dem Austritt UKs aus der Union.

Aus Sicht der „Remainer“ könnte das als etwas Gutes angesehen werden. Andererseits sind die Befürworter des Verbleibs in der EU über den Backstop-Vorschlag so gar nicht erfreut – denn er bedeutet keine volle EU-Mitgliedschaft, weder eine Zollunion noch einen einheitlichen Binnenmarkt – und beraubt GB jeder Möglichkeit zur Mitsprache und Mitbestimmung in den EU-Institutionen.

Aus Sicht der “Remainer” ist es absurd, die derzeitige einflussreiche Position des Vereinigten Königreichs in der Union als führende diplomatische und militärische Macht, als Finanzzentrum und Nettozahler und “Eigentümer” der (europäischen) lingua franca gegen den Status eines untergeordneten und einflusslosen Regelnehmers, der trotzdem noch an die Spielregeln der EU gebunden ist, einzutauschen.

Die vorgeschlagene Lösung ist de facto ein weiteres opt out, das das UK zwingt, die meisten – aber nicht alle – EU-Regeln zu respektieren, während in der Handels- und Wirtschaftspolitik einige Bereiche geschaffen werden, in denen das Vereinigte Königreich unabhängig von der EU agieren darf.

Diese gerade beschränkte Zollunion ist lediglich ein Element des Backstops.

Innerhalb dieses Arrangements ist UK in manchen Teilen nicht mehr an das EU-Recht gebunden. Dadurch entsteht eine weitere Herausforderung, einerseits den Warenfluss zwischen Irland und Nordirland ohne Zollüberprüfungen zu organisieren und andererseits jene Gesamtheit der EU-Regulierungen und Politiken durchzusetzen, die für eine Geschäftstätigkeit in der Republik Irland erforderlich sind.

Um sicherzustellen, dass keine Checks an einer „harten Grenze“ nötig sind, bestimmt die Rückzugsvereinbarung, dass Nordirland allen EU-Regeln unterworfen bleiben soll.

Das bedeutet, dass eine Überprüfung des Warenflusses zwischen Großbritannien nach Nordirland stattfinden muss, was zu gewissen gesetzlichen Teilungen zwischen der britischen Insel und Nordirland führen wird.

Diese Bestimmung hat die DUP wütend gemacht. Diese ist quasi mit der Idee „verheiratet“, dass Nordirland nicht anders behandelt werden darf als der Rest des Königreichs.

Diese Position führt dazu, dass die Partei das Faktum ignoriert, dass Nordirland dadurch einen privilegierten Zugang zum EU-Markt erhalten würde – etwas, das britische Unternehmen im „mainland“ nicht haben werden.

Aber nicht nur die DUP ist aufgebracht – auch die schottischen Nationalisten sind es.

Denn die britische Regierung, die politisch auf die DUP angewiesen ist, hat dieser garantiert, dass nordirische Firmen einen unbeschränkten Zugang zum britischen Markt haben werden, nur aber in diese Richtung.

Das verzerrt die Grundsätze des britischen Binnenmarkts. Mit dem uneingeschränkten Zugang sowohl zum EU- als auch zum britischen Markt werden nord- und vielleicht auch viele südirische Firmen über einen Wettbewerbsvorteil verfügen, den schottische, walisische und englische Firmen nicht haben werden.

Diese eigentümliche Vereinbarung, die durch das Zusammenstoppeln im Grunde unvereinbarer Kompromisse entstanden ist, muss man wohl als ein „pig’s dinner“ bezeichnen – also als zusammengewürfelte Überreste der Hauptmahlzeit.

Bild: Rennett Stowe from USA, via Wikimedia Commons

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