Das Fleisch des 20. & 21. Säkulums

plucked_cover“Gerupft” nennt sich der gerade erschienene Neuaufguss eines Texts, der die Fleischindustrie unseres Zeitalters erläutert, eine Branche, für die Antibiotika-Hühnchen in Tierfabriken emblematisch geworden sindclean_meat_coverhybride Kreaturen, denen es gestattet wird, vor ihrer Tötung sechs Wochen lang zu fressen. Weder diese Schlachtkörper noch ihre Vorfahren hatten freilich jemals die Chance rein zu werden – weder im eigentlichen noch im übertragenen Sinn.

Maryn McKenna ist Beiträgerin von National Geographic und was sie in Plucked vulgo Big Chicken liefert, ist alte Schule des Journalismus, im positiven Sinn. Es handelt sich um eine Reportage in Buch-Länge mit allem genretypischen Drum und Dran und einem Recherche-Vorlauf, der wohl in die Jahre geht.

Exekutiert in vordergründig chaotischen, in Wahrheit aber kalkulierten Wechseln von Perspektive und Zeitebene – um “aktuell zu sein” und um uns Heutigen das Geschehen näherzubringen, ohne gleichzeitig auf historische Tiefe und naturwissenschaftliche Akkuratesse verzichten zu müssen.

Aufgetischt wird eine Story, die allen irgendwie bekannt vorkommt, die das letztlich aber nicht ist. Die tragische Geschichte vom Lieblings-Protein der westlichen Convenience Food-Gesellschaften.

Ausgangspunkt waren auf den Farmen lebende, ähnlich aussehende Tiere, die die Menschen fütterten und denen sie quasi im Gegenzug die Eier wegnahmen.

Ansonsten kümmerten sich die Bauern kaum um die anderen, kleineren Zweibeiner, oft auch wenn diese krank waren.

Immerhin ließ man diese den ganzen Tag herumpecken und -scharren.

Wenn sie zu alt zum Eierlegen waren, landeten die Hühner im Kochtopf oder wurden (zuerst) verkauft.

Dieses Modell änderte sich mit dem Zweiten Weltkrieg, der Erfindung des Penicillin, und dem nach Kriegsende stattfindenden Chicken of Tomorrow-Wettbewerb.

Die nur langsam wachsenden alten Rassen wurden ersetzt – durch neue Züchtungen mit unverhältnismäßig breiter Brust (diese sind “top-heavy”, wie man über Bodybuilder mit ausgeprägten musculis pectoralibus und Frauen mit großen Brüsten sagt).

Die neuen Kreuzungen wurden bei gleichem Futterangebot schwerer (und zwar schneller) – und weil man den Viechern das Pecken & Scharren abgezüchtet hatte, konnte man sie auf engstem Raum zusammensperren.

Damit diese nicht krank wurden, gab man ihnen präventiv Antibiotika, die, wie Pharma herausgefunden hatte. auch gut für die Gewichtszunahme waren.

Je mehr davon, glaubte man, desto weniger Risiko und mehr Gesundheit für Tier und Mensch und an einem Punkt badete man die Schlachtkörper sogar in Antibiotika um Krankheitserreger daran zu hindern sich einzunisten (“Acronizing”).

Bald wurden mehr agrarische Antibiotika eingesetzt als in der Humanmedizin. Ziel war es, Hühnerfleisch zum Preis von Brot anbieten zu können – und das wurde beinahe erreicht.

Dieser Phase widmet McKenna den ersten Teil ihres Buchs, der How Chicken became essential heißt.

Es folgen die Modernen Zeiten, Teil zwei, etwa ab den 1960ern (How Chicken became dangerous).

Leitmotiv ist hier das Entstehen immer neuer Resistenzen gegen laufend neu entwickelte Antibiotika und die zunehmende Hilflosigkeit, mit der Menschenärzte Bakterien gegenüber standen, die nach Alexander Fleming eigentlich leicht zu bekämpfen hätten sein müssen.

Es ist die Schilderung eines Wettlaufs, der – wie der Leser zu extrapolieren geneigt ist - in eine post-antibiotische Welt mündet, in der alltägliche Infektionen wieder Todesurteilen gleichkommen.

McKenna vergisst nicht zu schildern, wie Agrobusiness, Big Pharma, diesen verpflichtete Politiker & andere Bösewichte gegen Regulierungsversuche auftreten und wie diese dort, wo es doch zu neuen Gesetzen und Guidelines kommt, umgangen werden.

Ihre tragischen Helden sind einerseits die unschuldigen Opfer von nicht (mehr) behandelbaren Salmonellenvergiftungen oder Harnwegsinfekten und andererseits hoch qualifizierte und scharfsinnige Mikrobiologen und Lebensmitteldetektive aus staatlichen Gesundheitsbehörden (und ein paar amerikanische Nachhaltigkeits-Pioniere).

McKennas Medizin-Detektive finden – mithilfe von Big Data – fast immer ein Bindeglied zwischen den geograpisch weit verstreuten Fällen, können letztlich aber nichts gegen der öffentlichen Gesundheit abträgliche, politisch aber tief verwurzelte Sonderinteressen ausrichten.

Der ditte Teil schließlich, How Chicken Changed, widmet sich einer Art Revolte US-amerikanischer Konsumenten nach einer schon zu Anfang des Buchs geschilderten Salmonellen-Epidemie 2013.

Dieser “Aufstand”, der sich im Bestellverhalten von Großküchen & Fast Food-Ketten sowie im “Umdenken” großer Chicken-Verarbeiter manifestiert hat, setzte seit Jahrzehnten überfällige Anti-Antibiotik-Standards durch, womöglich too little, too late.

McKenna scheint sich in der Beurteilung dieser Wende unschlüssig zu sein (benötigt von der Buchdramaturgie her aber ein einigermaßen versöhnliches Ende).

Eindeutig fällt dagegen ihr – ein wenig blauäugiges – Urteil über die europäische Nahrungsmittelindustrie aus: Gute Ansätze.

Poulets en liberté, meint sie immer wieder, seien nicht nur gesünder, sondern schmeckten auch besser.

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Auftritt des Reinen Fleischs von Paul Shapiro.

Reines Fleisch ist außerhalb von Tieren gezüchtetes, biochemisch synthetisiertes “Fleisch”, das die Zukunft des Karnivorismus sein soll.

Es ist diätetisch, gesundheitlich und ästhetisch wertvoll, weil homogen, frei von Fett, Krankheitskeimen und ungustiösen Dingen wie z.B. Eiter.

Es ist aber auch moralisch rein, weil erstmals in der Geschichte der Menschheit sowas wie Fleischfresserei möglich ist – ohne dass vorher ein Lebewesen dran glauben muss.

Das entlastet die Gewissen jüngerer und städtischer Schichten, wegen des Verzichts auf die Schlachtung, vor allem aber auch, weil diese Methode den Ungeheuerlichkeiten der Massentierhaltung keinen Raum lässt und weil sie angeblich klima- und ressourçenschonend ist.

nicht umsonst ist der Autor von Clean Meat übrigens Vizepräsident der Humane Society of the United States, einer “Tierschutzorganisation”.

Reines Fleisch ist jedenfalls etwas für modern denkende Menschen, die das Fleischessen nicht aufgeben wollen, oder besser: den Verzehr von etwas, zu dem sie Fleisch sagen (schließlich haben die Hominiden seit ihrem Auftauchen vor ein paar Jahrmillionen immer auch tote Tiere gegessen);

für modern denkende Menschen, denen der ressourçenschonende, eigentlich auch moderne Vegetarianismus (Veganismus) zu radikal ist.

Nicht zu vergessen natürlich unsere demokratischen Politiker, für die der Fleischkonsum des Volks, speziell Hendl, immer auch eine Art Leistungsnachweis ist, nämlich ein Proxy für die allgemeine Lebenshaltung.

Was sollen die in Zukunft sagen? “Es geht den Leuten gut, es wird immer mehr Müsli gegessen”?

Das Reine Fleisch des Paul Shapiro scheint da ein guter Kompromiss zu sein.

Man macht achtsam Platz für die anderen, beispielsweise die neuen Mittelschichten in China und Indien, die sich von immer mehr Muskelfleisch und Meerestieren ernähren – die Konsumenten müssen aber nicht offen erklären, dass sie auf Fleischkonsum verzichteten.

Das wäre natürlich imageschädlich. Wie manch anderes wird auch Fleisch-neu sein, was modern denkende Menschen in Staat & Regierung dazu erklären. Helau!

Literatur:

Maryn McKenna, Plucked!: The Truth About Chicken.2019

Paul Shapiro, Clean Meat: How Growing Meat Without Animals Will Revolutionize Dinner and the World. 2019

Unabhängiger Journalist

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