Der neue erste Kommissar Juncker ist wie kein Zweiter ein Mann des Systems – ähnlich wie der frühere sowjetische Machthaber Leonid Breschnjew. Junckers bevorstehende Wahl durch das Europaparlament demonstriert, dass die politische Elite des Kontinents wild entschlossen ist, weiterzumachen wie bisher.
Vor ein paar Monaten hat der deutsche Kolumnist Henrik Broder Juncker mit dem sowjetischen Politiker verglichen, der heute das Symbol für chronische Reformunfähigkeit ist: “An seiner Brust prangen mehr Orden und Medaillen als an der Uniform von Leonid Breschnew. In den 26 Jahren von 1988 bis 2014 wurde er 74 Mal für sein vorbildliches Wirken um ein geeintes Europa geehrt.”
Doch die Parallelen zwischen den Politikern gehen über vordergründige Dinge wie beispielsweise die extreme Eitelkeit der beiden Personen hinaus.
Breschnjew war – wie älteren Semstern bekannt -, jener Mann, der wie kein anderer für den Fall der Sowjetunion verantwortlich war – auch wenn er bei deren Ableben bereits neun Jahre tot war. Trotz (oder wegen) günstiger Rahmenbedingungen (hohe Öl- und Rohstoffpreise) verzichtete er darauf, politisch und wirtschaftlich neue Wege zu gehen, die seiner politischen Basis, der Nomenklatura, vielleicht geschadet hätten.Vor der Geschichte trägt er die Verantwortung für einen Staatsbankrott, der in der jüngeren Geschichte seinesleichen sucht.
Der Kollaps der Sowjetunion war ein großes Glück für die Ostmitteleuropäer, die der Umlaufbahn des roten Empires entfliehen konnten – er bedeutete aber auch eine persönliche Katastrophe für unzählige Sowjetbürger. Der Anthropologe Thomas Crump hat in einem soeben erschienenen Buch die Versäumnisse der Breschnjew-Aära noch einmal zusammengefasst, die tödlichen Krankheiten, an denen das Sowjetsystem scheiterte (Brezhnev and the Decline of the Soviet Union, 2014).
Auch Juncker ist der Idealtypus eines “Apparatschiks”, der Repräsentant eines erstarrrten politischen Systems, das unfähig ist, eine Richtungsänderung vorzunehmen.
Breschnjew war freilich das Produkt einer Struktur, die sich schon vor ihm etabliert hatte. Im Unterschied dazu hat Juncker die Machtmaschine, an deren Spitze er tritt, mit erschaffen. In gewisser Hinsicht könnte man ihn sogar als Staatsgründer der EU bezeichnen.
Der Luxemburger ist der letzte Mohikaner, der aus den Anfangstagen der europäischen Integration übriggeblieben ist. Er war seit 20, 25 Jahren praktisch ununterbrochen im Amt des Luxemburger Premiers und nichts, was die EU seit Beginn der 1990er-Jahre beschlossen und getan hat, geschah ohne sein Zutun. Das System EU ist Juncker und Juncker ist das System EU.
In der Sowjetunion, die nach dem Tod Stalins bereits ein Einheitsstaat war, gab es für ehrgeizige Kader nur zwei Möglichkeiten des Aufstiegs: die Kommunistische Partei und die Bürokratie.
In der heutigen EU spielen zentrale Bürokratie und europäisches Parteienkartell noch keine vergleichbar große Rolle. Ein “demokratischer Zentralismus” nach dem Muster der russischen Bolschewiki ist erst ansatzweise vorhanden. Die westeuropäischen Apparatschiks sind – noch – von regionalen Wahlen abhängig (die freilich nicht zu jener positiven Auslese und Wandlungsfähigkeit führen, die sie der Theorie nach haben müssten).
Ein kontrollierter Geheimdienstskandal
Im Fall Juncker ist diese regionale Basis das (beinahe) kleinste und reichste Mitgliedsland der Union. Er ist der politische Ziehsohn jenes Jacques Santer, der 1995 Präsident der bisher einzigen EU-Kommission wurde, die wegen angeblich korrupter Praktiken zurücktreten musste. Nach einer Geheimdienstaffäre musste Juncker Mitte 2013 in seinem Heimat-Rayon selbst den Hut nehmen – nach einem Skandal, der illegale Abhörpraktiken, die Existenz von Zehn- (oder Hundert-)Tausenden Geheimdossiers sowie die Verstrickung von Luxemburger Polizisten in Bombenanschläge enthüllte.
Obwohl dies dramatisch klingt, ist das, was öffentlich bekannt wurde, wohl nur die Spitze eines Eisbergs. Die Luxemburger Geheimdienstaffäre trägt alle Anzeichen eines Events, das in Szene gesetzt wurde, um einem größeren Schadensfall zuvorzukommen.
Der Eklat, der sich ursprünglich abgezeichnet hatte, war in mancher Hinsicht problematischer als alles, was der NSA zur Last gelegt wird. Doch die Causa endete als Sturm im Wasserglas. Ein Teil der “Verfehlungen”, um die das zentrale Beweisstück der Affäre kreiste, waren in interessierten Kreisen seit langem Allgemeingut oder aber sie waren verjährt oder längst irgendwie “saniert”.
Der Großherzog verfügt – was jeder Lehrling im Schlapphutmilieu weiß – über “exzellene Kontakte” zum MI6, der frühere Luxemburgische Geheimdienstchef hat nur einen “Vertrauensbruch” gegen Premier Juncker begangen, und der Letztere hat sich nichts anderes zuschulden kommen lassen als den Ersteren nicht auf der Stelle suspendiert zu haben.
Aber weil er “Anstand hat”, übernahm Jean-Claude die politische Verantwortung und trat zurück – so lautet jedenfalls die Erzählung. Der Oberspion ist heute noch Sicherheitschef des Siemenskonzerns und die Weste von Juncker blieb so weiß, dass er ohne Probleme die EU-Kommission übernehmen darf. Der Mann, der über die vergangenen 20 Jahr ununterbrochen die politischen Geschicke des Großherzogtums lenkte, hat von den Aktivitäten “seiner” Geheimdienste nichts gewusst. Ende der Geschichte.
So sieht eine kontrollierte Affäre aus. In der Sprache der Dienste wird diese Sorte von Märchen ein “Limited Hang out” genannt.
Es ist eine Propaganda-Operation, die sich der gezielten Veröffentlichung von bis dahin wenig bekannten oder (noch) nicht bestätigten Informationen bedient. Ihr Hauptziel ist es, größere Gefahren durch die unkontrollierte Veröffentlichung brisanterer Details zu verhindern. Wikipedia vermerkt dazu:
“(It) establishes credibility for the one releasing the information who by the very act of confession appears to be “coming clean” and acting with integrity; but in actuality, by withholding key facts, is protecting a deeper operation and those who could be exposed if the whole truth came out. In effect, if an array of offenses or misdeeds is suspected, this confession admits to a lesser offense while covering up the greater ones.”
Westliche Politiker verwenden diese Technik schon seit wenigstens einer Generation. US-Präsident Richard Nixon erwähnt sie in einem im Oval Office mitgeschnittenen Gespräch schon vor 40 Jahren.
Unabhängig von ihrer Ausrichtung freut sich die Presse über ein solches Spektakel, weil dieses gut für ihr Geschäft ist. Außderdem bietet es Gelegenheit , “kritisch” zu sein, pseudokritisch. Die Zeitungen stellen solche Inszenierungen üblicherweise nicht in Frage – selbst wenn deren Begleitumstände höchst verdächtig sind.
Die veröffentlichte Meinung agiert bestenfalls so verhalten wie das “Letzeburger Land” im konkreten Fall. Das hat einen Grund. Die Zeitung hatte mit der Veröffentlichung des Hauptbeweisstücks, des “illegal aufgezeichneten” Gesprächs zwischen Juncker und dem Chefspion einen echten Scoop gelandet. Das Blatt wurde mit der Story weit über die Grenzen des Kleinstaats hinaus zitiert.
Nur in einem verklausulierten Kommentar, zwischen Zeilen, lässt das Blatt erkennen, was es von dem Material eigentlich hält, das es veröffentlicht hat (eigene Hervorhebungen):
“Weil er das Gespräch heimlich aufnahm, war sich (Geheimdienstchef) Mille ständig bewusst, dass er gar nicht oder nicht nur für Juncker sprach, sondern gleichzeitig auch Theater spielte für das Publikum in seiner Armbanduhr (mit der Mille das Gespräch aufzeichnete) Deshalb sind seine Monologe streckenweise künstlich wie schlechtes Theater, wo jeder Schauspieler umständlich erklärt, wen er darstellt und was er tut.(…) “
“Doch Jean-Claude Juncker misstraut seinerseits dem Geheimdienstchef”, interpretiert die Zeitung und fährt fort: “(Juncker) hört ihm zu und sagt so wenig wie möglich. Am liebsten murmelt er bloß unverfänglich „Jo, jo“. Hätte er gewusst, dass das Gespräch heimlich aufgenommen wurde, er hätte sich kaum vorsichtiger anlegen können.”
“Mille drängt ihn (Juncker) immer wieder zu erzählen, worüber er mit dem Großherzog geredet hatte, weil er einen Anhaltspunkt brauche, um den ‘roten Faden’ aufnehmen und das Rätsel der angeblich verschlüsselten CD lösen zu können. Doch Juncker lässt sich nicht aus der Reserve locken, will die Arbeit seines Nachrichtendienstes nicht erleichtern. Er beteuert immer wieder, dass er nichts Wichtiges mit dem Großherzog geredet habe.”
Worin das Damoklesschwert bestanden hat, das Juncker veranlasst haben könnte, präemptiv tätig zu werden, ist unbekannt. Möglicherweise war es ein Prozess gegen zwei Sicherheitsleute, in dem klar wurde, dass die Geheimpolizei des Herzogtums in Terroranschläge verwickelt war. Attentate, die haarscharf in die “Strategie der Spannung” passten, mit denen auch in anderen euroäischen Ländern bestimmte politische Ziele durchgesetzt wurden.
Ende vergangener Woche haben die Regierungschefs gegen die Stimmen Englands und Ungarns Juncker für den Posten des Kommissionspräsidenten aufgestellt. Die Zustimmung des europäischen Parlaments am 16. Juli gilt als reine Formsache.
Foto: Knudsen, Robert L., European People’s Party, JLogan, Wikimedia Commons
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