Ist Erdogan ein Osmanen-Sultan oder ein Moslembruder-Kalif?

Erdo_Empire_coverEin US-amerikanischer Fellow türkischer Abstammung analysiert die Außenpolitik Ankaras, die sich in den vergangenen 15 Jahren deutlich verändert, nämlich “islamisiert” hat. Autor Soner Cagaptay gelangt dennoch zum Schluss, dass auch der von ihm selbst so benamste neue Sultan keine Alternative zum “Strategischen Westen” habe. Erdogan habe aus Gründen der Geostrategie, der Sicherheits- und Wirtschaftspolitk keine Alternative zu NATO & OECD.

Die vom Çagaptay geschilderte außenpolitische Anomalie spielt natürlich während der nun seit 15 Jahren dauernden Herrschaft RecepTayyip Erdogans – wurde von diesem aber nicht selbst verwirklicht;

sondern von Ahmet Davutoglu, einem Intellektuellen, der die Abkehr vom bisher einseitigen Westkurs der zweiten türkischen Republik erst theoretisch begründet (“Strategische Tiefe”) und danach praktisch umgesetzt hat – zuerst als Außen- und 2014 bis 2016 als Premierminister.

Die neue Außenpolitik wurde vielfach als exklusiver Akzent auf die muslimische Welt bzw. als “Neo-Osmanismus” angesehen, eine Rückbesinnung auf die imperiale Außenpolitik der Hohen Pforte.

Cagaptay stellt nun dar, dass dieses angebliche Vorbild

  • seit Napoleon gar nicht (mehr) bestanden hat und dass es lediglich der Fantasie diverser AKP-Kader entsprungen; sowie dass
  • die solchermaßen charakterisierte Politik kläglich gescheitert sei (weswegen Davutoglu letztlich habe gehen müssen).

Ersteres ist nicht wirklich bestreitbar und

Letzteres mag zutreffend sein, sofern das Ziel tatsächlich die Rückkehr zu imperialer Größe war (und wozu man eigentlich bis Süleyman dem Prächtigen würde zurückgehen müssen.)

Cagaptays Befund ist auch insofern korrekt, als sich kein Teil des ehemaligen Türken-Imperiums eine Rückkehr zu Osmanischem Glanz & Gloria gewünscht hat – nicht am Balkan, nicht im Kaukasus auch nicht im Nahen Osten.

Die Frage ist freilich, ob ein solches Revival überhaupt das vorrangige Ziel von Erdogan & Davutoglu war.

Ging es ihnen nicht doch eher um die Umma und ein Endzeit-Kalifat?

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Die Türkei hat sich schon vor Erdogan & Davutoglu als Schutzmacht für Moslems im ehemaligen Reichsgebiet dieses Empires gesehen, beispielsweise in den Balkankriegen der 1990er.

Dass sie spätestens 2016 in der MENA-Region tatsächlich “vor der Tür gestanden ist”, war Folge anderer Umstände:

  • Erstens – und vor allem -, haben Erdogan & Co. Partei für einen “demokratischen” sunnitischen Islamismus der Marke Moslembruderschaft ergriffen (im Gegenstz zum Islamismus der meisten autokratischen Fürstentümer der Arabischen Halbinsel) sowie
  • der Syrien-Krieg wurde, zweitens, ja gar nicht von sunnitischen, sondern von säkulären und/oder schiitischen Eiferern gewonnen.

Das habe Ankara spätestens mit dem erfolgreichen Putsch gegen Mohammed Mursi in Kairo ins Hintertreffen gebracht, meint Cagaptay

- und es habe den Golf-Arabern (mit Ausnahme Katars) einen kurzfristigen “Erfolg im Misserfolg” beschert.

Die Türkei habe sich aber auch im Syrien-Krieg selbst vergaloppiert, wo sie sozusagen nach Missverständnissen mit den USA vorgeprescht sei, den Sturz des Machthabers in Damaskus verlangt und quasi wahllos Waffen an Assad-Feinde verteilt habe, so der Mitarbeiter des Washington Institute for Near East Policy.

Aus einer solchen Perspektive tragen die Erdogan-Türkenheute beinahe die Alleinschuld am Wüten des Islamischen Staats, während die Obama-Amis fast nichts damit zu tun gehabt hätten

- ebensowenig wie z.B. die Saudis und die Vereinigten Arabischen Emirate.    :mrgreen:

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Natürlich haben sowohl Riad als auch Türken den extrem-sunnitischen Assad-Feinden geholfen, ebenso wie die Vereinigten Staaten, hauptsächlich über deren Auslandsgeheimdienst CIA.

Die Indizien für die Involvierung der Obama-USA in Rekrutierung und das Training späterer ISIS-Kämpfer sind jedenfalls dicht.

Nichtsdestotrotz wird im “liberalen” Washington bis heute derlei gern als Verschwörungstheorie angesehen.

Soner Cagaptay, Erdogan’s Empire: Turkey and the Politics of the Middle East. 2019

Soner Cagaptay, The New Sultan: Erdogan and the Crisis of Modern Turkey. 2017

Unabhängiger Journalist

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