Ein Kapitel aus der Mitte des Buchs soll den Anfang machen. Ich ziehe es vor, weil in ihm wesentliche Voraussetzungen des Gesamttexts erläutert werden.
Es erklärt, was unter Volkssouveränität verstanden wird, einer Lehre, aus der die demokratischen Staaten bisher ihre Herrschaftsberechtigung bezogen haben. Diese Doktrin hat sich als Antwort auf die “Fürstensouveränität” entwickelt, mit der die absoluten Herrscher der frühen Neuzeit ihre Machtansprüche begründet haben. Noch heute beginnen fast alle demokratischen Verfassungen mit dem Satz “Alle Gewalt geht vom Volk aus.”
Bezeichnenderweise stellt heute oft die Klasse der westlichen Berufspolitiker, die ihr Amt einer Wahl verdanken, dieses Prinzip infrage. Es sei nicht mehr zeitgemäß, weil die Welt so klein geworden und alles so “vernetzt” sei, dass kein Volk mehr die Herrschaft über sich selbst ausüben könne. Manchmal wird dies mit einem (nur angedeuteten) Rufmord verbunden. Es wird dabei so getan, als gebe es keinen Unterschied zwischen Fürsten- und Bürgersouveränität und als seien parlamentarische Demokratien für die Kriege des 19. und 20. Jahrhunderts hauptverantwortlich.
Diese Politiker empfehlen sich damit als besonders sachkundig und deuten dabei an, dass sie den Wählern eigentlich keine Rechenschaft mehr schuldig sind, weil diese die komplizierte Sachlage ohnedies nicht verstünden. Besonders in den EU-Staaten geben derlei untreue Poliker den Ton an.
Weil die Ausübung von Macht heute aber nur mehr schwer mit einem göttlichen Herrschaftsauftrag begründet werden kann, haben sie sich etwas Neues einfallen lassen müssen.
Statt vom Prinzip der repräsentativen Demokratie abzurücken, haben sie sich offenbar entschlossen, die Basis ihrer Macht auszutauschen. Deren Quelle sollen nicht mehr die einzelnen Völker sein, sondern ein EU-Staatsvolk, das es real (noch) nicht gibt und das es in absehbarer Zeit auch nicht geben kann. Ein künstlich geschaffenes Etwas, das sich seiner nicht bewusst ist und das daher leicht zu beherrschen ist. Das läuft auf ein altes, kolonialistisches Herrschaftsprinzip hinaus. Es wurde in den Zeiten des Römischen Reichs als “Divide et Impera” bezeichnet.
An diesem Projekt der politischen Elite nehmen übrigens auch die Grünen teil, die noch immer Losungen wie “direkte Demokratie” und “Small is beautiful” im Mund führen. Sie spielen – wie die Liberalen – in dieser Bewegung mittlerweile die Rolle von Wortführern.
Es gibt ein paar Gründe, warum es so bald keinen “europäischen Souverän” geben kann, der Träger einer demokratisch legitimierten Staatsgewalt könnte. Der vielleicht schwächste ist, dass die europäischen Völker kulturell noch immer sehr verschieden sind. Das mag aus einem innereuropäischen Blickwinkel richtig sein – von außen aber schon nicht mehr. Aus China gesehen haben alle Europäer lange Nasen.
Gewichtiger ist die Tatsache, dass sich auch heute noch wenige als Europäer (im Sinn eines Staatsvolks) fühlen. Das hat zur Folge, dass nur wenige bereit sind, eine europäische Herrschaftsausübung zu akzeptieren und auch, dass es Grenzen für die Bereitschaft zur “Solidarität” gibt – bei den Solidargebern.
Zum Beispiel der Wille, über Landes- und Sprachgrenzen hinweg einem Finanzausgleich zuzustimmen. Regionale Finanzausgleiche sind schon in sprachlich und kulturell homogeneren Gebieten schwer genug zu argumentieren – wie deutsche oder italienische Politiker unschwer bezeugen können.
Es gibt aber noch zwei weitere Gründe dafür, warum es so bald keinen EU- Souverän geben kann – wenigstens keinen auf irgendwie natürliche Weise zustandegekommenen.
Die beiden Gründe hängen miteinander zusammen. Der erste wird im Unterkapitel “Paneuropäische Medien – ein glatter Fehlstart” angesprochen. Eine zentrale europäische Regierung benötigte als Gegengewicht auch eine europäische Öffentlichkeit, Medien, die eine gewisse Kontrollfunktion wahrnehmen können.
Die gibt es heute nicht einmal ansatzweise, obwohl man vor 20 Jahren begonnen hat, dafür geeignete Zeitungen und Fernsehsender ins Leben zu rufen. Trotz Förderungen und sonstiger massiver Unterstützungaktionen durch die Politik hat kaum eines dieser Medienprojekte überlebt. Und es gibt keinen besonderen Grund anzunehmen, dass sich das in den nächsten 20 Jahren ändern könnte.
Der zweite, allgemeinere Grund ist die Sprachenfrage. Ein demokratisches Staatswesen benötigt eine gewisse sprachliche Homogenität. Sicher, es gibt Beispiele für Staaten mit zwei oder drei größeren Sprachgruppen – beispielsweise die Schweiz, Belgien oder Kanada. Aber erstens ist keines davon ein schlagendes “Erfolgsbeispiel”, sondern höchstens eines dafür, dass ein Auseinanderbrechen bisher verhindert werden konnte.
Und zweitens handelt es sich jeweils um eine relativ überschaubare sprachliche Zersplitterung, die mit einem Aufwand, den moderne Staaten treiben können (oder die das zumindest glauben), kompensiert werden können.
In den 28 europäischen Staaten werden 24 verschiedene (größere) Sprachen verwendet. Das ist eine sprachliche Diversität, die der angeblich “weltgrößten Demokratie”, Indien vergleichbar ist.
Der Unterschied ist nur: Es gibt zwischen den Völkern des Subkontinents zwei belastbare “Sprachbrücken”. Die eine ist Hindi, eine Sprache, die von mehr als 40 Prozent der Inder gesprochen wird. Hindi ist Amtssprache und wird auch von den Massen in den ländlichen Gebieten verstanden, zumindest in jenen Landesteilen, wo eine Sanskrit-Sprache gesprochen wird. Nach Erlangung der Unabhängigkeit wurde Hindi stark forciert und sollte ursprünglich die alleinige Amtssprache des Landes werden. Das ist bis heute noch nicht der Fall.
Die zweite Amtssprache ist Englisch, eine Hinterlassenschaft der früheren Kolonialherren. Dieses Idiom wird überwiegend in den Städten und von den Eliten gesprochen. Der Anteil der Englisch sprechenden Inder ist etwas geringer als der der Hindi-Sprecher.
Alles in allem mögen die Inder kulturell und sprachliche “diverser” als die Europäer sein, die indischen Völker haben aber robustere sprachliche Verbindungsstücke. Und anders als die Europäer verfügen sie über eine funktionierende sogenannte “Lingua Franca”.
Unter vordemokratischen Verhältnissen hatte auch Europa eine Lingua Franca – Lateinisch. Die war zwar nur wenig verbreitet, aber das war für das damalige Gemeinwesen ausreichend. Genug, um ein paar Zehntausend Kleriker, Schreiber und Studenten miteinander kommunizieren zu lassen.
Heute kommt das Englische einer solchen europäischen “Freisprache” noch am nächsten. Doch selbst unter den günstigsten Rechen-Annahmen spricht heute nur eine deutliche Minderheit der Europäer ein einigermaßen brauchbares Englisch. Die Beherrschung des Englischen ist nicht einmal in jener Brahmanen-Kaste der Politiker gewährleistet, die wie keine andere den europäischen Einigungsprozess vorantreibt.
Stellt man in Rechnung, dass im öffentlichen Leben, in Beruf und Ausbildung manchmal sprachliche Nuancen entscheidend sind, kommt man nicht umhin, festzustellen: Nur 15 bis 20 Prozent aller EU-Bürger wären heute sprachlich nicht gehandicapt, wenn Englisch zur europäischen Lingua Franca erklärt würde. Würden sich 2015 oder 2016 die Briten verabschieden, blieben überhaupt nur mehr fünf oder zehn Prozent übrig.
Auch das Buch-Kapitel, das hier hier in drei Tagen veröffentlicht wird, ist ein Vorzieher. Es ist das 8. Kapitel und heißt “Eine andere Geschichte”. In ihm wird erklärt, wie sich das heutige Europa von den USA des 18. und 19. Jahrhundert unterscheidet und warum Amerika nicht zum historischen Vorbild für uns heutige Europäer taugt. Danach beginnt die Veröffentlichung dort, wo man eigentlich üblicherweise beginnt: am Anfang, bei der Einleitung.
Das 9. Kapitel ist als deutschsprachiges PDF jetzt über “Volltext” downzuloaden.
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