Während die Kalten Krieger in Brüssel und Washington glauben machen (wollen). dass die bedenklich leeren europäischen Gas-Kavernen bedeuten, dass Putin die Energiepeitsche jetzt auch gegen Westeuropa schwingt, hätten Moskau gern, dass die Europäer die Micky Maus-Lieferungen an die Volksrepublik als die Bedrohung schlechthin für “ihren eigenen Gasfluss aus Sibirien” wahr nehmen. In Wahrheit kann die Gazprom wohl nimmer so, wie sie selbst das gern hätte.
Paradoxerweise speisen sich beide entgegengesetzten Lesarten aus einem zentralen Mythos – dem von unerschöpflichen und vor allem bedingungslosen Ressourçen-Reichtum Russlands.
Der Unterschied ist nur, dass ihn die Kalten Krieger verwenden um dem Zaren am Zeug zu fllicken,
wohingegen die Ruskis den Europäern signalisieren:
Na gut, dann verkaufen wir unsere unermesslichen Naturschätze halt an China.”
Weder die eine noch die andere Botschaft ist stichhaltig.
In der NATO-Story wird so getan, als wollten die Russen die Westeuropäer über eine Einstellung von Erdgaslieferungen kirre machen,
speziell die deutschen (und EU-)Regulatoren, die die Nordstream 2 noch nicht genehmigt haben.
Dieses G’schichterl hat gleich zwei “wahre Kerne”:
- zum einen, dass die Staaten der EU schon heute von einem großen Energielieferanten existenziell abhängig sind: der Russischen Föderation und deren GUS-Satelliten;
- und zum anderen, dass die Russen jetzt ernst mit ihrem lange gehegten Wunsch machen, das bisherige Transitland Ukraine zu umgehen (mit entsprechenden Folgen auch für “weiter flussabwärts liegende” mitteleuropäische Staaten wie Ungarn, die Slowakei und Österreich).
Trotzdem stinkt die Geschichte vom Peitsche schwingenden Energiezaren beträchtlich, denn
- erstens wird die totale Erschöpfung der niederländischen und das deutlich vernehmbare angestrengte Schnaufen der norwegischen Produktion völlig ausgeblendet. Auch die Ansicht, dass “Putin” und nicht “westliche Spekulanten” für die Amokläufe des holländischen TTF verantwortlich wären, ist unfreiwillig komisch;
- und zweitens sind die Russen nicht für die teils dramatischen Storage-Verluste im AGSI-System verantwortlich – schon gar nicht für die in den vergangenen drei Monaten größer werdenden Abgänge. Ein kurzer Blick auf die Gasfluss-Bilanzen des AGSI zu Europa und Österreich zeigt: Schon in den vergangenen Jahren hat es “in der Heizsaison” keine größeren Zuflüsse von (russischem) Erdgas gegeben. Das heißt auch, dass die sich heuer abzeichnenden Knappheiten nur dann vermieden würden, wenn die Russen aktuell den “Gashahn voll aufdrehen würden” – entgegen der bisherigen, sich über Jahrzehnte ziehenden Praxis. Das könnten sie wohl nicht einmal, wenn sie das wollten.
Die Flows im AGSI
Hier nun die beiden Tabellen, die die heute vorhandenen aktuellen Daten nicht voll ausschöpfen
(was darauf zurück zu führen ist, dass diese Analyse schon vor ein paar Tagen erfolgt ist und ich keine Lust habe, mit um ein paar Tage jüngeren Daten noch einmal alles durch zu rechnen).
Injections (GWh) | Withdrawals (GWh) | I-W-Ratio | |
1.11.21 bis 25.1.22 | 56572 | 403435 | 14% |
1.11.20 bis 25.1.21 | 39340 | 484862 | 8% |
1.11.19 bis 25.1.20 |
48251 | 302285 | 16% |
Hier die Tabelle für Österreich:
Injections (GWh) | Withdrawals (GWh) | I-W-Ratio | |
1.11.21 bis 25.1.22 | 3471 | 34274 | 10% |
1.11.20 bis 25.1.21 | 5935 | 37054 | 16% |
1.11.19 bis 25.1.20 | 5429 | 16503 | 33% |
Die Tabellen vergleichen die Flüsse während der ersten Hälfte der Heizsaison in den vergangenen drei Jahren.
Sie zeigen, dass die Zuflüsse (“injections”) von November bis Ende Jänner schon bisher nur zwischen 10 und 20 Prozent der Entnahmen lagen
(wobei der Österreich-Wert für die Saison 2019/20 durch äußerst geringe Entnahmen verzerrt wird – man muss also eher mit 10 – 15% rechnen).
Die Storage-Verluste sind dem gegenüber wesentlich massiver. Sie belaufen sich aktuell auf mehr als 400 TWh in AGSI-Europa und mehr als 30 TWh in Österreich (in der ersten Hälfte der laufenden Heizsaison).
Dieser (primär winterbedingte) Abbau des Speichervolumens summiert sich zum geringeren “Pegelstand” der europäischen Speicher zu Beginn der Heizsaison.
Letzteres ist zu einem guten Teil tatsächlich auf geringere russische Lieferungen zurückzuführen.
Das rührt daher, dass Russland im vergangenen Sommer nur jene Mengen geliefert hat, zu deren Abgabe es über langfristige Verträge vertraglich verpflichtet war.
Zu diversen “Auktionen zum Spotpreis” sollen die Russen diesmal gar nicht aufgetaucht sein
und die große Frage ist, warum das der Fall war.
Faktum ist jedenfalls, dass EU-Europa seit ca. einem Jahrzehnt ständig darauf drängt, mehr von “seinem” russischen Gas über solche Auktionen beziehen zu können.
Die zweite, dem entgegen gesetzte Story ist die von der
Neuorientierung des russischen Gas-Geschäfts Richtung China.
Dieses G’schichterl wird von Moskau und dessen frei- und unfreiwilligen Helfern verbreitet.
Die offiziellen Verlautbarungen zum 300. Memorandum oder zur 500. Feasibility-Studie
kommen dann oft mit einem Foto daher, das den Zaren und den Kaiser von China vor Flaggen oder an mit Weitwinkel aufgenommenen, riesigen Konferenztischen zeigt
(einmal sah man die beiden Geschäftspartner mit einem Stamperl Schnaps anstoßen, was geradezu kreativ ist). Die gerade eröffnete Winter-Olympiade in Peking bietet jedenfalls eine perfekte Kulisse für solches Zeug;
alles freilich so professionell, dass sich die hiesigen Polit-Mehrfachverwerter – inklusive Ex-Bundesbasti – eine Scheibe abschneiden könnten.
Was dabei real heraus kommt, erinnert freilich eher an die sprichwörtlichen kreißenden Berge, die ein Mäuslein gebaren.
Im Zentrum der Nachrichten-Attrappe steht jedenfalls die Erdgas-Pipeline Power of Siberia, deren zweite Erscheinung demnächst
zu 100% sicher und total unwiderruflich unterzeichnet wird – oder erst in ein paar Jahren oder gar nicht, wer weiß das schon.
Das Narrativ besagt, dass die Russen mit ihren unerschöpflichen Energieressourçen künftig das Wachstum der Volksrepublik antreiben würden
und dass spätestens mit der Fertigstellung der Power of Siberia 2 die Europäer un “ihr Gas” aus Jamal würden kämpfen müssen (i.e. höher bieten).
Mit dem Bau wurde noch nicht einmal begonnen und die Strecke soll jetzt über die Mongolei statt über das Altai führen. Die Kapazität soll 80 Mrd. Kubikmeter pro Jahr betragen, was Marketing-Menschen mit “bis zu” übersetzen würden.
Der erste Arm der Kraft Sibiriens, der 2019 in Betrieb gegangen ist, liefert mittlerweile ca. 12 Mrd. Kubikmeter (mehr als 16 Mrd, laut Gazprom)
was glatt das Doppelte jener Menge ist, die Klein-Österreich Jahr für Jahr den Russen abzukaufen pflegt.
Sollte der zweite Arm gegen 2030 tatsächlich einmal in Betrieb gehen (was nicht wahrscheinlich ist), werden die Europäer die Chinesen vielleicht wirklich überbieten müssen.
In diesem Fall wird sich nur die Frage stellen, ob es noch Erdgas gibt, das (lohnend) gefördert werden kann.
Vielleicht stellt sich diese Frage freilich schon heute.
Das wäre eine gute Erklärung, warum die Russen kein Gas über den Spotmarkt mehr verkaufen und nur mehr alte Verträge erfüllen.
Vorderhand.
Comments are closed, but trackbacks and pingbacks are open.