Eine Geschichte des Ukraine-Kriegs: Großartiges& Ärgerliches b. Haslam

haslam_cover_02_resizedEin emeritierter britisch-amerikanischer Sowjetspezialist hat ein nun in diversen Ausgaben erscheinendes Buch über die “Vorgeschichte” des 2022 formell begonnenen russisch-ukrainischen Kriegs vorgelegt und dieser Rezensent findet Jonathan Haslams Resümee der US-amerikanischen Wurzeln des Ukraine-Konflikts beachtlich. Der Mann wird den “blowback” von Natotisten & Kriegstreiber-Journaille bereits zu spüren bekommen (aber zweifellos erwartet haben). Sein zentraler Befund findet sich bereits im Titel: “Hubris”, haslam_cover_03_resizedalso imperiale Überheblichkeit der USA. Haslamhaslam_cover_resized seziert freilich nur einen – wiewohl sehr wichtigen -  “Strang” dieses Konflikts – etwas anderes, ist mit seinem Buch auch gar nicht “beansprucht”.  Ärgerlich ist dieses Fehlen trotzdem.

Haslam, ein früherer Professor u.a. in Princeton und Cambridge, geht 30 Jahre bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion zurück um den heutigen Krieg verständlich zu machen

und die “Voreingenommenheit”, die ihm in einigen wenigen Besprechungen publizistischer Mietmäuler vorgeworfen wird, scheint im Zitieren von Mainstream-Texten zu bestehen, die oft erst Jahre post factum erschienen sind (auch russische).  :mrgreen:

Die tragende These von Haslams Buch besteht darin, dass die USA nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion deren größten Nachfolgestaat – auch die (Post-)Jelzin-Russen – nicht mehr ernst genommen und als vernachlässigbare Größe gesehen hätten, auf die Washington keine Rücksicht (mehr) nehmen müsse

(was den Autor freilich nicht dran hindert, Obamas und der damals noch willigen Vasallenstaaten desinteressierte Reaktion auf Krim-Annexion und MH-17-Abschuss als “schwach” zu kritisieren

- was interessante Fragen aufwirft, z.B. ob dann nicht schon Obama ein “früherer Trump” war, dem Außenpolitisches egal war und der solches primär nach dessen Relevanz für die Interessen der Staaten beurteilte;

noch “schwächer” waren nach dieser Darstellung auch die damals Ton angebenden außenpolitischen “EUliten”, die (vor 2022) “Russland” zwar eingedämmt sehen, die aber keinen politischen oder wirtschaftlichen Preis dafür zahlen hätten wollen – “deutsche Industrie” und “alte Garde der deutschen sozialdemokratischen “Entspannungspolitiker”, etc.)

Die Haupt-Dynamik der “Ostwanderung” von NATO und offensivfähigen West-Raketen sei (bis vor kurzem, jedenfalls nach dem erstmaligen Erscheinen des Texts) aber von den USA ausgegangen, wo deren “außenpolitische Eliten” erstmals wieder gemeinsamen ideologischen Boden gefunden hätten

- also republikanische Neocons und demokratische “humanitäre Interventionisten” (Letztere verwendeten freilich nicht immer bzw. nicht einmal primär Bomben und Granaten, sondern lieber USAID oder NED).

Diese, Haslams Hauptthese wird von 1991 bis 2022 quasi “durchdekliniert”

(was ja durchaus sinnvoll ist, ist es dem Laien doch schwer möglich, über 30 Jahre hinweg “Entwicklungen im Auge zu behalten”).

Dabei soll erwähnt werden, dass Haslams Perspektive keine “russophile” in dem Sinn ist, dass der realen Russischen Föderation und deren Satellitenstaaten  geschmeichelt würde

- er beurteilt das aktuelle politische System der RF als undemokratischen Sicherheitsstaat der Silowiki, der (Petersburg-)mafiöse Züge aufweist

(womit dieser Blogger in vielerlei Hinsicht “mit kann”. Er hat keine sonderliche Sympathie für das das russische politische System, es ist nur “none of his business”).

Der Verfasser von “Hubris” hält es für legitim,

  • dass auch ein solcher Staat geopolitische, also quasi naturräumlich-überzeitliche “rote Linien” hat, die besser nicht überschritten werden und
  • dass es sich im konkreten Fall sehr wohl und noch immer um eine great power handelt, die “Macht nach außen projizieren kann” (auch das sieht dieser Blogger ähnlich, der gerne an die sg. kubanische Raketenkrise vor 60 Jahren erinnert, als Havanna rein rechtlich natürlich ebenso souverän war – souverän Raketen aufzustellen – wie heute Kiew).

An dieser Stelle des Eintrags soll der “ärgerliche Teil” beginnen, oder genauer ausgedrückt: die Aufzählung jener Fakten, die der Autor erst gar nicht thematisiert,

offenkundig, weil diese nicht in sein “diplomatiegeschichtliches International Relations-Schema” passen.

  • Da ist einmal der Umstand dass weder die RF noch die USA, noch “Europa” die Sowjetunion von 1945, die USA von 1945 oder Nazi-Deutschland von 1945 sind (natürlich abgesehen von den oben erwähnten geopolitischen Grundgegebenheiten). Das ist ein “weites Land” mit vielen verzweigten Aspekten. Erwähnt soll hier nur der Umstand werden, dass “Europa” (wie schon vor 80 Jahren) Rohstoff- und Energie-arm ist, dass es seit dem Zweiten Weltkrieg aber zunehmend mit dichter Energie aus der nahen Sowjetunion bzw. Russland versorgt wurde (siehe dazu u.a. den Aufsatz von Dunja Krempin in “Cold War Energy”). Erst dieser Umstand hat es bisher – teilweise – von den “Weltmärkten” unabhängig gemacht. Nun, wo die russische Versorgungslinie weg geschlagen – oder im Stil eines verunglückten “Selbstfallers”freiwillig unterbunden wurde -, ist EU-Europa ein hoffnungsloser Fall, mehr als die USA selbst. Es ist sich dessen nur noch nicht bewusst.
  • Das klingt zunächst “kontraintuitiv”, liegt das Zentrum des Dollar-Imperiums, das Bonner und Wiggin “Empire of Debt” nannten, doch in den USA (dort nahm auch die “Weaponisierung des US-Dollars” ihren Ausgang). Wie kann es dann sein, dass deren europäische Vasallen schlechter dran sein sollen als ihre “Meister” in Übersee”? Antwort: Weil die USA bei sich daheim bzw.in ihrer eigenen Hemisphäre (zunächst) besser mit Nahrungsmitteln, Rohstoffen und dichter Energie versorgt sind als die Gefolgsleute in “Europa”; jene “Vasallen”, die über Jahrzehnte die Finanzialisierung des Zentrums nachgeäfft haben und die in Sachen Staatswirtschaft und Euro-Keynesianismus sowieso seit langem führend waren; jene “Vasallen”, die nun stärker denn je auf die “Weltmärkte” angewiesen sind. Auch das scheint  weder Brüssel noch International Relations-Chronisten wie Haslam eine Zeile wert zu sein.
  • So gesehen mag es es einen – kurzfristigen – “Plan B” für die Vereinigten Staaten, aber auch Russlands, geben – der “rebus sic stantibus” dem verketzerten Trump-Ansatz ähnlicher sehen dürfte als dem europäisch-sozialdemokratisch-US-demokratischen. Haslam gibt sich politisch zwar betont unabhängig (siehe seine vernichtende Schilderung von “Russiagate” oder die Qualifizierung der NYT als “mouthpiece of the Democratic Party”), aber den Trump-Apologeten will er denn doch nicht geben. In seinem Kapitel “Trump fails” – gemeint ist dessen erste Amtszeit – wird die Sprunghaftigkeit und Unberechenbarkeit des Donald geschildert, die so gar nicht nach dem Geschmack des Kreml und dessen publizistischer Liebediener ist. Nur – was bedeutet “Scheitern” in diesem Zusammenhang? Wohl etwas anderes als das “Scheitern” von Bush junior oder Barack Obama, die militärisch in die Vollen gegangen sind ohne dass sie damit etwas Positives für die Staaten bewirkt hätten. Oder soll es etwa “Scheitern an Assad” bedeuten? Etwa weil ein vorangekündigter US-Raketenschlag nach einem angeblichen Chemiewaffeneinsatz des Assad-Regimes stattgefunden hat? Vielleicht sollten sich auch Wissenschaftler ohne Anführungszeichen mit dem Gedanken anfreunden, dass die “kognitive Kriegsführung” mittlerweile den traditionellen Waffengattungen weitgehend gleichgestellt ist und dass nicht alles, was irgendwer irgendwo schreibt, automatisch wahr ist.

Jonathan Haslam, Hubris: The Origins of Russia’s War Against Ukraine. 2024

Unabhängiger Journalist

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