Der in Wien lebende Taliesin, ein Waliser, sieht den Brexit aus einer Perspektive, die hier nur wenig bekannt ist. Für ihn geht es nicht primär um eine Revolte von Unterschichtlern, die wahlweise als Volk verherrlicht oder alte Modernisierungsverlierer diffamiert werden. Er sieht eine Rückbesinnung auf die in 500 Jahren gelegten (parlaments)demokratischen und (dem common law verpflichteten) “rechtsstaatlichen” Wurzeln des britischen Staatswesens.
Vorbemerkung: Dies ist meine Lesart von drei Stücken von John James/Taliesin, die auf bachheimer com erschienen sind. Es ist mein (vereinfachender) Blick, der von Aussagen und Aussageintentionen des Autors abweichen kann.
Fehler und echte misrepresentations werden natürlich korrigiert/nachberichtet. Ich werde allerdings im Zuge der lesenden “Aneignung” der Texte auch meine eigene Perspektive beistellen, die farblich gekennzeichnet sein wird. Blaue Textpassagen gehen nicht direkt auf Aussagen von John, sondern auf von mir gezogene Schlüsse/Interpretationen zurück.
Für Taliesin hat die britische Elite schon seit Langem das Interesse an der EU verloren und betreibt in Brexit den Abgang aus der Union mithilfe der Stimmgewalt des einfachen Volks (wenn man den hiesigen Zeitungsberichten Glauben schenken darf, ist die kommerzielle und finanzielle Oberschicht freilich tief gespalten und hat auch einen europhilen oder besser: EU-philen Teil).
Ein wichtiger Grund für den Rückzug ist, dass besagte Leute
wissen, dass das Fortbestehen der eigenständigen britischen Rechts- und Verfassungstradition mit einer EU Mitgliedschaft unvereinbar ist und dass, wenn der Ausstieg nicht bald erfolgt, diese Tradition verschüttet sein wird. “
So sei
einem Boris Johnson, der in Oxford Staatskunde studiert hat, durchaus abzunehmen, dass seine Ablehnung der EU prinzipiell von seiner Loyalität zur britischen Verfassungstradition motiviert wird.”
John hat den Unterschied zwischen dem englischen und dem kontinentalen set up in politischer und rechtlicher Hinsicht in zwei Artikeln erläutert, die schon vor dem Referendum in englischer Sprache erschienen sind und in nuce geht es um zwei Aspekte
- Erstens um die unbedingte Parlamentssouveränität, die im 17. Jahrhundert gegen das Königshaus errungen worden ist, speziell die des House of Commons. Und
- zweitens um die Rechtstradition des common law, in der wirklich unabhängige, weisungsfreie ordentliche Gerichte – und nicht Verwaltungsgerichte wie am Kontinent – als Begrenzer und Kontrolleure der Staatsmacht fungieren.
Zu beiden Aspekten sind bereits ganze Bibliotheken gefüllt worden, aber für den hier verfolgten Zweck soll das erst einmal reichen.
Taliesins Schluss aus den unterschiedlichen politischen und Rechtstraditionen ist wie folgt (eigene Übersetzung, Hervorhebung):
Eine finale und unumkehrbare Integration des Vereinten Königreichs in einen vereinheitlichten europäischen Staat würde es erforderlich machen, dass die Praxis der Kontrolle durch ordentliche Gerichte auf Basis des common law und der parlamentarischen Rechenschaftspflicht (accountability) beendet werden und von der Tradition der kontinentalen Verwaltungsgerichte ersetzt werden müsste. So eine Entwicklung würde letztlich die Doktrin des absoluten Vorrangs des Britischen Parlaments zerstören. Das Festhalten des britischen Volks an der Idee, dass es keine höhere politische Autorität als das House of Commons geben kann und sein Glaube daran, dass Politiker und Beamte durch die Herrschaft des Gesetzes (rule of law) geleitet werden müssen, sind mächtige intellektuelle Argumente gegen die Mitgliedschaft in der EU und sind in der britischen Kultur tief verwurzelt.”
Und an anderer Stelle:
Die Politik der Integration in eine föderal organisierte und zentral regierte Europäische Union würde UK aus einem voll souveränen Staat in das europäische Äquivalent von Texas verwandeln, was in historischer Hinsicht nur als Abirrung (aberration) verstanden werden könnte.”
Dabei ist es in Sachen Brexit zu einem (nicht selbstverständlichen) Schulterschluss zwischen der (“loyalen”) Elite und dem gemeinen Inselvolk gekommen.
Das Entscheidende, glaubt der Autor, sei nicht die formelle Mitgliedschaft, sondern der Vorrang des EU-Rechts, der seit 1972, dem Jahr vor dem Beitritt, kodifiziert ist.
Meine Prognose ist, dass das Parlament dieses Gesetz ändern wird und seine Hoheitsrechte zurückholen wird. Dafür müsste es auch mit diesen (den aktuellen) Abgeordneten möglich sein, eine Parlamentsmehrheit zu gewinnen. Dann ist das britische Parlament wieder die höchst politische Instanz im Lande und hat als solche das letzte Wort darüber, was in Großbritannien Gesetz ist und was nicht.”
Nun – John hat das nicht gesagt, aber es ist m.E. schwer möglich, diesen Ansatz anders zu lesen als dass eine der eigenen politisch-rechtlichen Tradition verpflichtete Elite bereit ist mit der EU zu brechen, wenn diese die Grundlagen des eigenen Staatswesens bedroht. Dass das z.B. in Deutschland und Österreich nicht der Fall ist, erlaube ich mir dazu zu sagen.
Literatur:
Brexit – das Erdbeben (Teil 1)
https://bachheimer.com/artikelarchiv/109-brexit-erdbeben
Brexit in a historical context (Part 1)
https://bachheimer.com/artikelarchiv/104-brexit-historical
Brexit in a historical context (Part 2)
https://bachheimer.com/artikelarchiv/105-brexit-historical-2
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