Heute vor 30 Jahren ist Thomas Bernhard gestorben und wer daran interessiert ist, kann sich in der österreichischen Journaille umfassend über diesen bedeutenden Schriftsteller der Zweiten Republik informieren. Dieser Blog widmet sich lieber einer vor zwei Jahren erschienenen Lesart von Karl Kraus, Joseph Roth, Robert Musil, Elias Canetti, Paul Celan und Ludwig Wittgenstein.
Dieses reading stammt von der emeritierten Stanford-Professorin Marjorie Perloff, die 1931 als Gabriele Mintz in Wien geboren wurde und die 1938 von dort vor den Nazis geflohen ist (mit ihrer Familie).
Perloff nimmt sich in ihrem 2016 erschienenen Edge of Irony einer Handvoll Intellektueller an, die auf den ersten Blick nicht allzuviel gemeinsam haben – streng genommen nicht einmal ihre Zeitgenossenschaft (Karl Kraus ist beispielsweise 46 Jahre älter als Paul Celan).
Der Sammelbegriff “jüngere Altösterreicher” rechtfertigt sich dennoch dadurch, dass
- besagte Schriftsteller zwar auf dem (ehemaligen) Staatsgebiet der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie geboren wurden, aber
- erst nach deren Untergang zentrale Aktivitäten entfaltet haben bzw. rezipiert wurden, üblicherweise in der sogenannten Zwischenkriegszeit (im Fall Celans und Canettis gar erst nach dem Zweiten Weltkrieg).
Deshalb passen diese Literaten nicht so recht in das Raster der mehr oder minder gelehrten Autoren, die über das Wiener Fin de Siècle geschrieben haben, wissenschaftlich und in Reiseführern.
Perloff führt einen zweiten Grund für diese traditionelle Hintansetzung an – und das ist (mit Ausnahme von Wittgenstein), dass sie nicht aus der Residenzstadt selbst, sondern aus der altösterreichischen Provinz kamen, aus so entlegenen Winkeln wie Czernowitz gar.
Fünf von sechs stammen aus einem irgendwie jüdischen Haus und jeder von ihnen hatte ein intimes, obzwar “widersprüchliches, jedenfalls aber hoch komplexes” Verhältnis zu seinem Mutter-Idiom, der altösterreichischen deutschen Sprache, wie diese in der Multikulti-Umgebung des Habsburgerreichs punktuell gepflegt wurde.
Diese “Austro-Modernisten” wie die Perloff sie bezeichnet, wurden stärker noch als ihre oft avantgardistischeren deutschen Gegenstücke geprägt vom
trauma of war followed by the sudden and radical dissolution of the geographical entities, into which these writers were born”
was zu einem
deeply skeptical and resolutely individualistic modernism”
geführt habe -
one much less ideologically charged than its counterpart in Germany.”
Ihre wichtigste Tonart sei (wohl wieder mit Ausnahme des Sprachphilosophen von Wittgenstein), eine geradezu nihilistische Ironie gewesen, die sich systematisch von Reform- oder gar Revolutionskonzepten ferngehalten habe.
Das immunisierte die – rassisch gesehen sowieso “indisponierten” – Poeten zusätzlich gegen den braunen Bolschewismus, aber auch gegen dessen roten Zwillingsbruder – siehe Celan.
Und es ermöglichte “totale politische Fehlleistungen” wie die Sympathie des späten Karl Kraus für Engelbert Dollfuß – etwas, das für politisch korrekte Heutige “völlig jenseits” und nicht wirklich entschuldbar ist.
In Austro-Modernist fiction and poetry, irony — an irony less linked to satire (which posits the possibility for reform) than to a sense of the absurd — is thus the dominant mode. The writer’s situation is perceived not as a mandate for change — change that is always, for the Austrians, under suspicion — but as an urgent opportunity for probing analysis of fundamental desires and principles.”
Deswegen gibt es keinen österreichischen Bert Brecht (nicht einmal zu einem echten Sozialdemokraten haben die Austro-Modernisten es gebracht).
Thomas Bernhard mag diesen wegwerfenden Gestus auch gehabt haben.
Zu Karl Kraus aber verhält er sich wie ein Rohrspatz zu einem Steinadler, pardon.
Literatur:
Marjorie Perloff, Edge of Irony: Modernism in the Shadow of the Habsburg Empire. 2016
Bild: Dora Kallmus [Public domain] via Wikimedia Commons
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