Man kann ohne Übertreibung sagen, dass am 3. September ein historischer Tag im britischen Unterhaus war. Wie in meinem letzten Kommentar prognostiziert, hat Boris Johnson mit seiner Entscheidung, die laufende Legislaturperiode Ende nächster Woche zu beenden, die Gegner seiner Politik gezwungen schnell zu handeln. Von John James
Eins muss man Boris Johnson lassen: er will für klare Verhältnisse und klare Fronten sorgen. Vorbei die Zeit des sich Versteckens und Durchwurschtelns.
Die im letzten Kommentar konstatierte “negative” Mehrheit hat gleich am ersten Tag den hingeworfenen Fehdehandschuh aufgegriffen und extrem scharf gekontert.
Normalerweise verfügt eine britische Regierung über eine Mehrheit im Unterhaus.
Die Statuten des Unterhauses sehen vor, dass an den allermeisten Tagen in einer parliamentary session die Regierung die Tagesordnung bestimmt. Nur an wenigen Tagen können Oppositionspolitiker die Tagesordnung des Parlaments gestalten.
Eine Regierungsmehrheit garantiert unter anderem, daß diese Statuten (standing orders) nicht außer Kraft gesetzt werden können.
Die Mehrheit der Parlamentarier will diese Woche ein Gesetz verabschieden, das der Regierung explizit verbietet, einen No Deal Brexit durchzuführen und das die Regierung darüber hinaus zwingen soll, um eine weitere Verlängerung der Austrittsfrist beim EU Ministerrat anzusuchen.
(Nebenbei bemerkt ist nicht klar, wie das Unterhaus den EU Ministerrat zwingen kann, gegen seinen Willen einer Fristverlängerung zuzustimmen. Die Parlamentarier gehen offenbar davon aus, dass aus der EU keinen Widerstand gegen eine weitere Fristverlängerung kommen wird).
Dieses Gesetz wird heute, Mittwoch, eingebracht.
Doch damit die Opposition das Gesetz heute einbringen kann, musste sie gestern den Statut (standing order) aufheben, das die Kontrolle der Regierung über die Tagesordnung regelt – ein unerhörter und bisher eigentlich unvorstellbarer Vorgang.
Noch gestern Vormittag, am ersten Tag nach der parlamentarischen Sommerpause, hatte die Regierungskoaltion aus Tories und Ulster Unionists eine theoretische Mehrheit von einer Stimme.
Gleich am Beginn der Debatte wurde diese Mehrheit begraben, als der Hinterbänkler und Conservative MP Philip Lee vor den Augen von Boris Johnson, der auf der vordersten (Regierungs-) Bank sitzt, die Seiten wechselte.
Er sitzt jetzt gegenüber, als frisch getauftes Mitglied der Liberal Democrat Party.
Bei der Abstimmung am Ende des Tages stimmten 21 Konservative gegen die eigene Regierung und befürworteten den Antrag, dass nicht die Regierung, sonderen das Parlament die Tagesordnung bestimmen solle.
Dies ist ein schwerer Akt der Illoyalität gegenüber der eigenen Regierung. Die britische Regierung kann ab heute ihre legislativen Vorhaben nur mit Erlaubnis des Parlaments auf die Tagesordnung setzen.
Großbritannien hat natürlich noch eine Exekutive und Minister, die über ihre Ministerien den Alltag im Land administrieren können, aber Großbritannien hat keine Regierung mehr, die ihre eigene Gesetzgebung bestimmen kann.
Die Regierung ist vom Parlament entmachtet worden. De jure bleibt die Regierung bestehen, de facto kann sie nicht mehr agieren, sondern nur mehr reagieren.
21 Konservative haben für die Entmachtung der Regierung gestimmt. Dass Boris Johnson dieses Verhalten nicht tolerieren konnte und würde, war allen klar.
Sie wurden aus der Fraktion ausgeschlossen.
Die meisten davon werden bei der nächsten Wahl nicht mehr kandidieren. Die Parteiführung wird ihre Kandidatur nicht befürworten und ihre Ortsparteien, die pro forma den Kandidaten für ihren Wahlkreis bestimmen, sind vielfach extrem EU-skeptisch und mit der Haltung ihrer Abgeordneten seit längerer Zeit unzufrieden.
Unter diesen 21 befinden sich Größen wie Kenneth Clarke, Finanzminister unter Margaret Thatcher und ehemaliger Generalsekretär der Bilderberg Gruppe, Philip Hammond, Finanzminister unter Theresa May, sowie David Gauke und Rory Stewart, beide ehemalige Unterminister im Justizministerium unter Theresa May; und zu guter Letzt Nicholas Soames, Enkel von Winston Churchill.
Eine solche Säuberung hat es meines Wissens in der britischen Parlamentsgeschichte noch nie gegeben.
Johnson weiss, dass er in diesem Parlament nichts durchbringen kann. Aber mit seiner rücksichtlosen und entschlossenen Taktik hat er seine Gegner gezwungen, sich zu outen.
Er hat sie aus der Partei entfernt und somit die Conservatives zu einer Partei gemacht, die ohne Wenn und Aber hinter einer EU-feindlichen Politik steht.
Sein Gegner Jeremy Corbyn ist nicht nur extrem links, sondern auch extrem schwach.
Obwohl er seit Jahrzehnten als EU Gegner gilt, war es ihm nicht möglich, Druck auf die schwache Theresa May auszuüben und den Brexit zu erzwingen.
Stattdessen wurde er selber von den Blairisten in der Labour Partei unter Druck gesetzt. Labour ist inzwischen zu einer Remain Partei zurückmutiert und Corbyn schaut wie ein Pensionist aus.
Seit zwei Jahren verlangt Corbyn Neuwahlen. Johnsons Antwort – im Gegensatz zu May – gestern war: Es ist nicht meine Idee, sondern Ihre. Aber wenn es sein muss, gerne!
Mit seiner Politik hat Johnson die Gefahr, die von Nigel Farages Brexit Party für die Conservative Party drohte, vorerst abgewendet.
Bei den EU Wahlen hatte May 10%, die Brexit Partei 30%+. Jetzt hat Johnson in den Umfragen 30%+, die Brexit Party 10% und Corbyn ist bei 25%.
Corbyn ist Opfer seiner eigenen Unentschlossenheit. Er versucht jetzt, die Kurve zu kratzen, indem er seine Zustimmung zu Neuwahlen von der Verabschiedung des heutigen Gesetzes gegen einen No Deal Brexit abhängig macht.
Dies scheint mir eine sichere Sache zu sein. Die geschassten Tories haben ihre Karrieren opfert und werden das nicht umsonst gemacht haben.
Also können wir uns auf Neuwahlen einstellen, vermutlich wird die Regierung um eine Verlängerung der Austrittsfrist ansuchen. Niemand kann wollen, dass UK mitten in einem Wahlkampf ohne handlungsfähige Regierung aus der EU hinaustorkelt.
Falls die Tories die Querschüsse der Brexit-Partei ohne großen Schaden überleben, falls die Torie Party diszipliniert und geschlossen auftreten kann und falls sie mehr Mandate als Labour gewinnt, wird Boris Johnson nach der Wahl das neue Kräfteverhältnis im Parlament studieren und eine neue Strategie für Europa formulieren.
Das sind freilich sehr viele “Fallen” in einem Satz.
Genauso wahrscheinlich ist eine politische Krise auf der Insel – eine, “die sich gewaschen hat” und die dem Chaos der 70er Jahre nahe kommt.
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