Brit. Elite demontiert sich selbst

Die britischen Remainers haben nur noch drei Optionen, um Brexit zu verhindern: Sie können den Austrittsantrag nach Artikel 50 widerrufen, was ein Verfassungs-Skandal wäre, oder sie verlassen sich drauf, dass der Speaker eine Abstimmung über den Deal Premier Johnsons verhindert. Als dritte Option bietet sich die laufende Verzögerung eines Austritts. Von John James

Der Speaker des House of Commons scheint nun jeden Anschein von Neutralität fallen gelassen zu haben.

Er ist nicht neutral, weil er – mit stillschweigender Zustimmung des Parlaments – in den vergangenen zwei Jahren seine Befugnisse erweitert und dort Präzedenzfälle nicht beachtet hat, wo es ihm in den Kram passte (er könnte daher leicht mit der momentan aktuellen “Präzedenz” brechen, wenn er wollte).

Wie die Dinge liegen, argumentiert John Bercow, dass er eine nochmalige Vorlage des Austrittsabkommens nicht erlauben werde, weil dieses von der Regierung schon am Samstag einmal eingebracht wurde (und an diesem Tag vom Parlament erfolgreich abgeändert wurde). Dasselbe Argument übrigens, das er, basierend auf einem Präzendenzfall des 17. Jahrhunderts, bereits verwendet hatte, um eine dritte Abstimmung über Mays Withdrawal Agreement zu erschweren und eine vierte zu verhindern.

Sollten weitere Änderungen zum Gesetzesentwurf vorgeschlagen werden, dann wird Bercow eine Abstimmung darüber wohl zulassen müssen, sonst befinden wir uns in einer Situation, in der eine einzige Person die Ratifizierung eines internationalen Abkommens verhindert.

Die Widerrufung von Artikel 50 wäre skandalös, weil die britische Regierung bereits in den 1990er Jahren Referenden als verbindliche Abstimmungen in die britische Verfassung eingeführt hat – Referenden, die einen allgemeinen Grundsatz festlegen, den die Regierungspolitik umsetzen muss.

Weitere Amendments werfen übrigens eine wichtige Frage auf: Johnson hat das Abkommen am Freitag mit den Staats- und Regierungschefs der EU unterzeichnet. Wenn das Parlament die Bestimmungen des Abkommens nun einseitig ändert, wird es dann nicht ungültig?

Die Regierung wollte am Samstag das drohende Wiederholungs-Verbot unschädlich machen, indem sie keine formelle Abstimmung über den Gesetzentwurf selbst forderte und ankündigte, dass sie einen solchen diese Woche, nachdem die Briefe nach Brüssel geschickt worden waren, erneut einbringen werde.

Bercow entschied jedoch am Montag, den 21.10.2019, dass die vorangegangene Abstimmung über den Änderungsantrag bedeutete, dass der Gesetzesentwurf in seiner jetzigen Form bereits dem Parlament vorgelegt worden sei und dass er dem Parlament keine zweite Chance geben würde darüber abzustimmen.

Eine derartige Blockadetaktik ist allerdings längerfristig wohl nicht aufrechtzuhalten.

Die dritte Option der Remainers scheint nach meinem Dafürhalten die vielversprechendste zu sein.

Es ist für dieses Parlament, das den Brexit drei Jahre lang ohne Ergebnis debattiert hat, sicherlich möglich weitere acht Wochen bis zu den Weihnachtsfeiertagen über jene Gesetzgebung zu diskutieren, zu deren Einführung das Letwin-Amendment die Regierung jetzt vermutlich zwingt.

Extend and pretend”, wie die Amerikaner sagen. Das würde den Brexit mit Leichtigkeit auf den Jänner verschieben, wo das ganze Theater um die Notwendigkeit einer Verlängerung noch einmal von vorne beginnen könnte.

***

Das vielleicht Erstaunlichste an der ganzen Angelegenheit ist, dass das Parlament seine Kontrolle über den Ablauf des Brexit an die EU abgegeben hat.

Nicht nur will es nicht, dass die britische Regierung eine Entscheidung trifft, überraschenderweise will es selbst auch keine treffen.

Wenn man als überzeugter Remainer der Meinung ist, dass die Aufrechterhaltung der Vorrangstellung des EU-Rechts gegenüber dem britischen Recht notwendig ist, um die britische Demokratie zu retten, dann ist eine solche Haltung die logische und zwingende Konsequenz.

Schließlich beschreibt der Vertrag von Lissabon die Position der nationalen Parlamente in Bezug auf das EU-Recht klar: laut Lissabonner Vertrag haben diese keine Gesetzgebungsbefugnisse, sondern nur das Recht von der EU über bevorstehende Rechtsakte informiert zu werden.

Der Ball liegt nun eindeutig im Spielfeld der EU.

Sollte die Union eine Verlängerung ablehnen, wird das Unterhaus gezwungen sein, sich zwischen einem No Deal Brexit und dem Brexit Johnsons zu entscheiden. Die Remainers wollen keine der beiden Optionen.

Wenn die EU Artikel 50 verlängert, bleibt Großbritannien für die Dauer der Verlängerung in der EU. Obwohl der Benn-Letwin Act vom Samstag eine Verlängerung bis zum 31.1.2020 vorsieht, kann das britische Parlament dies der EU nicht aufzwingen.

Die EU kann vermutlich ihre Entscheidung über die Dauer der Verlängerung ohne Rücksicht darauf treffen, was Großbritannien will oder braucht. Das Parlament hat Johnson de facto in eine Lage gebracht, wo er jede vorgeschlagene Verlängerung und die damit verbundenen Bedingungen akzeptieren wird müssen.

Als Ergebnis der Besessenheit der Remainers den Brexit zu verhindern, ist also die Entscheidungsbefugnis über die Zukunft von Großbritannien nun aus den Händen des Parlaments in die Hände der EU übergegangen.

Die Europäische Union könnte theoretisch sogar einseitig ihre Zustimmung zu Boris’ Deal widerrufen und Bedingungen für das britische Parlament diktieren, unterstützt etwa durch die Drohung, Großbritannien zu einem Zeitpunkt ihrer Wahl einen No Deal Brexit aufzunötigen.

Das ist kein sehr wahrscheinliches Szenario, wie zu hoffen ist – aber was ist das für eine Lage, in der sich das United Kingdom 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung befindet?

Was immer die kurzfristigen Folgen eines No Deal-Brexit wären – sie könnten Britannien nicht mehr schwächen als die gerade skizzierte Situation.

Meiner Einschätzung nach haben die Remainer-Abgeordneten samt ihrer verlogenen Hinhaltetaktik die britische politische Klasse zu einer Lachnummer auf dem europäischen Festland gemacht. Das scheint den meisten Remainern, die sich als Widerstandskämpfer gegen Korruption und Ignoranz begreifen, nicht bewusst zu sein.

Schon bald, ist zu befürchten, wird sich das kontinentaleuropäische Amusement in echte Verärgerung verwandeln.

Man wird erkennen, dass man es nicht mit einem exzentrischen Neuaufguss der “Volksfront für die Befreiung Palästinas“ aus Monty Pythons ‘Leben des Brian’” zu tun hat, sondern mit Menschen, die ihr eigenes politisches System dysfunktional gemacht haben und die sich nicht mehr vorhersagbar oder zuverlässig verhalten.

Es wäre eine Katastrophe für Großbritannien, wenn sich der europäische Zugang zum Vereinigten Königreich aus geduldigem Engagement in Misstrauen und Ausgrenzung verwandeln würde.

Mit ihren unermüdlichen Versuchen, einen “Brexit in name only” zu schaffen, hat die Elite Großbritanniens ihre einst substanzielle Reputation beschädigt und demontiert – im Ausland, aber auch daheim, was vielleicht noch Besorgnis erregender ist.

Es ist hoch an der Zeit eine Lösung zu finden, die sowohl die verfassungsmäßige Ordnung Britanniens als auch die Beziehungen zu seinen europäischen Nachbarn stabilisiert.

Nigel Farage hat zweifellos darin Recht, dass Boris´ Deal intellektuell nicht sauber ist.

Aber zu einem Zeitpunkt, an dem die Slogans von Straßenprotesten zunehmend das Niveau und die Standards der Debatten im Unterhaus färben und taktische Manöver eine ernsthafte Diskussion der Themen ersetzen, bietet Johnsons Deal zumindest einen Rahmen, in dem die britischen Institutionen eine ernsthafte Debatte über die Zukunft des Vereinigten Königreichs führen können.

Eine zweite Referendumskampagne hingegen droht, das Feuer des Straßenprotestes und der nationalen Spaltung noch stärker anzufachen.

Comments are closed, but trackbacks and pingbacks are open.