So sieht man das wenigstens in der Moskauer Duma. Abgeordnete der Präsidentenpartei gehen davon aus, dass die russische Regierung die nächste Zielscheibe wird und haben begonnen, an der Ausschaltung der “fünften Kolonne” in Staatsapparat und Medien zu arbeiten.
Die Europäische Union ist Weltmeister im Deklamieren hehrer Prinzipien. Für sie ist dies nichts Außergewöhnliches. Es ist etwas Alltägliches. Besonders laut wird ihr Singsang aber nur, wenn die Verletzung dieser Prinzipien gegen die eigenen Interessen verstößt.
Zum Beispiel Mitte März, als sich Russland handstreichartig die Krim zurückholte, die sich dessen Vorvorgänger, das Zarerreich, 1783 einverleibt hatte. Vor nur 60 Jahren hatte ihr Vorgänger, die Sowjetunion, die militärstrategisch wichtige Halbinsel an die Teilrepublik Ukraine verschenkt; eine Geste, die in den folgenden 40 Jahren keinerlei reale Bedeutung hatte.
1991 löste sich das sowjetische Imperium entlang der Grenzen seiner Teilrepubliken auf und der neu entstandene Staat Ukraine nahm das “Geschenk” aus den 1950ern in die politische Selbstständigkeit mit. Auch das hatte lange keine realen Konsequenzen, weil die Russische Föderation den Marinestützpunkt über Jahrzehnte im Vorhinein mietete. Ein Teil des “Mietpreises” waren verbilligte russische Gaslieferungen.
2014, nach dem (nicht ganz verfassungsgemäß) zustandegekommenen Sturz des ukrainischen Staatsoberhaupts, empfanden die Militärs des Nachbarstaats Mietverträge offenbar als zu unsicher. Russland annektierte faktisch die mehrheitlich von ethnischen Russen besiesdelte Halbinsel – was trotz des eines kurzfristig organisierten Referendums eine Verletzung internationalen Rechts war (wie das die USA – und seltener auch die EU – selber praktizieren).
Die Europäer verlangen seit dieser Aktion routinemäßig, die Russen müssten die politische Selbstständigkeit und territoriale Integrität der Ukraine respektieren. Zum Beispiel hier:
Ironischerweise ist der ohnedies vorher schon wenig überzeugenden Unabhängigkeit des osteuropäischen Landes vor ein paar Wochen endgültig der Graus gemacht worden.
Ironischerweise haben das aber nicht die Russen, sondern die EU selbst getan. Denn seit der Unterzeichnung des 900 Seiten starken Abkommens ist die Ukraine keine eigentständige politische Entität mehr.
Dieses Abkommen hat z.B. mit der Abmachung, mit der sich Österreich 1973 zur EWG gesellt hat, nur die Bezeichnung gemeinsam. Das aktuelle Assoziationsabkommen mit der Ukraine ist ein Beherrschungsvertrag, der vollendete Tatsachen schafft – ohne dass die ukrainischen Bürger vorher irgendwie konsultiert worden wären.
Sowohl der neu gewählte Präsident als auch das ukrainische Parlament, die Werchowna Rada, sind in allen (vom Vertrag mit der EU erfassten) Angelegenheiten dem “Assoziationsrat” untergeordnet, einem von Kommission, Ministerrat sowie ukrainischen Ministern besetzten Gremium. Die Entscheidungen dieses Ausschusses haben bindende Wirkung.
Mehr als das erfährt die Öffentlichkeit nicht dazu. Die Größe des Gremiums, der Schlüssel, nach dem es zusammengesetzt ist und die Quoren für die Abstimmung haben offenbar nicht zu interessieren. Die Politiker hüben wie drüben glauben ganz klar tun und lassen zu können, was immer ihnen beliebt.
Über den Vertragsatext verstreut werden wohl Dutzende Potemkinsche Dörfer errichtet, die davon ablenken sollen, dass es sich hierbei um keinen Knebelvertrag handelt. Sie sollen verschleiern, dass das Assoziationsabkommen ein Beherrschungsvertrag ist.
Ein Beispiel dafür ist die Einrichtung von (von beiden Seiten besetzten) Schiedsgerichten. Die sind in ihren Entscheidungen aber an den Europäischen Gerichtshof gebunden, der ein politisches Gericht ist, wie (nicht nur) der frühere deutsche Bundespräsident Roman Herzog festgestellt hat.
Russische Parlamentarier würden diesen Knebelvertrag trotzdem achselzuckend hinnehmen. Eigentlich. Denn politisch bedeutet es zunächst nur, dass ein korrupter lokaler Oligarch Schiffbruch mit seiner Schaukelpolitik erlitten hat und daher die Macht abgegeben musste.
Das Gefühl, dass die selbstständige Ukraine gescheitert, ein failed state und dass dies ein Gemeinschaftswerk beider Flügel der ukrainischen politischen Klasse ist, ist in der Duma weit verbreitet; und auch der Gedanke, dass es eigentlich im Interesse Russlands wäre, wenn andere die Kosten für die Aufräumarbeiten im Nachbarhaus übernehmen würden.
Dennoch verfolgen die Russen die Geschehnisse jenseits ihrer Westgrenze mit tiefem Misstrauen. Das hat zwei Gründe.
Der eine sind die Terrorangriffe Kiews auf zivile Ziele in der Ostukraine (worüber in den westlichen Medien nicht berichtet wird) – vom Bombardement von Wohnvierteln in Slawjansk bis hin zu Kommandoaktionen, bei denen verwundete separatistische Kämpfer im Spital “hingerichtet” weden. Das ist den Politikern des “Einigen Russland” schon deswegen nicht egal, weil damit die politischen Kosten für ihre eigene “untätige Haltung” immer höher werden.
Der zweite Grund für ihr Unbehagen ist, dass die russischen Parlamentarier nicht glauben, dass EU-Europa im eigenen besten Interesse handelt. In ihren Augen agiert Brüssel primär als HiWi für den strategischen Rivalen Russlands. Als Strohmann Washingtons.
Das sieht beispielsweise Duma-Abgeordneter Yevgeny Alexeyevich Fyodorov so, der der Partei Putins angehört. Ab Minute 58 eines langen Interviews für einen russischen Privatsender beschreibt er, wie Ämter und Institutionen der Ukraine fremdem Willen untergeordnet wurden. Unter den heutigen Bedingungen sei es ziemlich egal, wer Präsident in Kiew sei, erklärte er Wochen vor der Wahl Poroschenkos. Der künftige Präsident werde auf Basis dieses Assoziationsvertrags gewählt und habe real daher nichts zu entscheiden.
Fyodorov glaubt, dass die Geschehnisse im Nachbarland nur das Vorspiel zu einem ähnlichen Putschversuch Russland sind – ein Coup, der spätestens 2015 versucht würde. Der Coup werde mithilfe einer aus den USA kontrollierten “5. Kolonne” in Szene gesetzt werden.
Fyodorov sieht für Putin nur zwei Reaktionsmöglichkeiten: eine verfassungskonforme mittels eines Referendums und eine außerrechtliche, über einen Putsch des Sicherheitsapparats.
Die Aufzeichnung des Interviews fand im März statt. Die Youtube-Version mit englischen Untertiteln wurde erst vor einigen Tagen veröffentlicht. Wer Russisch beherrscht oder die englischen Untertitel versteht, sollte eineinhalb Stunden opfern und sich dieses Video ansehen.
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