Kapitel 4 nimmt seinen Ausgang beim Phänomen der Glühenden Europäer, ein in der österreichischen Regierungsklasse verbreitetes Leitbild. Die selbsternannten EU-Fans, die oft keinen Schimmer von der historischen und kulturellen Substanz Europas haben, stellen ihre Tätigkeit ganz in den Dienst eines machtpolitischen Projekts, das sie selbst sorgenfrei und im Wohlstand leben lässt.
Dass die Politiker damit auf einem ganz anderen politischen Planeten leben als die angeblich von ihnen Vertretenen, kümmert sie nicht.
Der Europäismus wurde in den 1980ern zur zentralen Ideologie der beiden großen europäischen Volksparteien und vor etwa 15 Jahren begannen auch die Grünen und Liberalen in dieses Boot zu steigen – Zielgruppenparteien, die sich heute besonders lautstark proeuropäisch geben. Nur einige Gruppen am rechten und linken Rand sind bisher auf Distanz geblieben.
Die Zentrumsparteien zählen diese aber nicht zur loyalen Opposition und versorgen sie z.B. im Europaparlament nicht mit Informationen aus den ausschlaggebenden Ausschussitzungen. SPE, EVP, ALDE und Europäische Grüne bilden ein (supra)staatlich gefördertes riesiges politisches Kartell, gegen das – wäre es ein wirtschaftlicher Trust – Wettbewerbehörden sofort vorgehen müssten.
Der kleinste gemeinsame Nenner ihrer Weltanschauungen ist ein moderner westlicher Universalismus, der ihnen einen idealistischen Anstrich gibt, der letztlich aber dazu dient, Hegemonie, direkte Herrschaft oder die Zwangsblückung Dritter zu begründen. Wie der liberale Imperialismus der englischen Kolonialzeit und jener der heutigen USA ist auch der europäische ein Machtinstrument und außerst anfällig für Doppelmoral: Angeblich allgemeingültige Menschenrechte, für die anderswo Völkerrecht gebrochen wird, gelten bei den eigenen Verbündeten nicht, über deren dubiose Praktiken wird großzügig hinweggesehen.
Dabei ist die Realverfassung der EU nicht den (heute degenerierten) parlamentarischen Systemen des Westens, sondern der untergegangenen Sowjetunion entlehnt. Die Union wird nach dem Muster der “Kollektiven Führung” gelenkt, in der nach dem Tod Lenins und Stalins die politischen Entscheidungen getroffen wurden. Das hielt aber nur einige wenige Jahre an. Nachdem Josef Stalin bzw. Leonid Breschnjew ihre Macht konsolidiert hatten, war für dieses System kein Platz mehr.
Das Europäische Parlament, das so gern zum demokratischen Hoffnungsträger hochstilisiert wird, ist keine machtlose, sondern “nur” eine gefesselte Institution, die von seinen eigenen Chefs in Stricke gelegt wurde; jenen Politikern, die zum inneren Kreis der Kollektiven Führung zählen und die mit jenem Pfund wuchern, das “ihren” Abgeordneten bzw. eigentlich deren Wählern gehört. Die Folge ist eine hoch intransparente und undemokratische Form der Gesetzgebung. Sie findet im “Trilog” ihren Ausdruck, auf dem die heutige Massenproduktion von Gesetzen beruht.
Auch die EU-Parlamentarier unterstehen noch ihren nationalen Parteichefs, die in der Regel auch der Kollektiven Führung der EU angehören. Der “Hut”, den sie als Mitglieder der europäischen Oligarchie aufhaben, ist ihnen im Zweifelsfall wichtiger als der “Hut”, der ihnen von ihren nationalen Wählern verliehen bekamen und der der eigentliche Ursprung ihrer Macht ist.
Deshalb geht der meist taktisch erhobene Vorwurf, sie seien nur an der Bewahrung ihrer nationalen Machtposition interessiert, ins Leere. Das tatsächliche Verhalten, das die nationalen Politiker in den vergangenen 15 Jahren an den Tag gelegt haben, beweist das Gegenteil.
Das Unterkapitel “Selbstermächtigungen” beschäftigt es sich mit den Rechten, die sich die Regierungen im Vertrag von Lissabon selbst als Kollektiv zugeschanzt haben, zum Beispiel im Verfahren zur vereinfachten Vertragsänderung und in der Passerelle-Klausel. Dieses Vorgehen hatte nichts mit irgendwelchen Renationalisierungstendenzen zu tun, sondern damit, dass die formalen Quellen der politischen Macht noch immer nationale sind und dass es wohl einen “Verteilungskampf” gegen die Kommission und das Parlament gibt.
Der offenbar schon seit langer Zeit vor sich gehende Einbau legistischer Zeitbomben in die EU-Verträge legt nahe, dass es ein wenigstens zwei Jahrzehnte altes Commitment der europäischen Zentrumsparteien gibt, die nationale Souveränität erst auszuhöhlen und bei Bedarf dann in die Luft zu sprengen.
Beispielsweise über Paragraph 23(e) der österreichischen Verfassung, der anlässlich des Beitritts 1994/95 eingefügt wurde. Nach diesem Paragraphen kann der EU-Ministerrat über den österreichischen Fachminister Veränderungen der Verfassung verlangen – und durchsetzen, solange eine einfache Mehrheit des österreichischen Parlaments nicht dagegen einschreitet. Wie bekannt erfordern Verfassungsänderungen ansonsten die Stimmen von zwei Dritteln des Hohen Hauses.
Dass 23(e) die sprichwörtliche Schwalbe ist, die allein noch keinen Sommer macht, ist angesichts der sonstigen Entschlossenheit und der “kriminellen Energie” der Glühenden Europäer unwahrscheinlich.
“Volltext” ab morgen, Freitagfrüh. Wie immer enthält das Kapitel alle Belege in Form von Fußnoten.
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