Europas katalonisches Schicksal

450px-Elisa_Bremon_de_Espina_P1150580Am Sonntag haben sechs Millionen Katalonen die Gelegenheit, in einer Volksbefragung darüber zu entscheiden, ob sie von Spanien unabhängig werden wollen. Madrid hat in den vergangenen Wochen alles in die Waagschale geworfen, um die Befragung zu verhindern – vergeblich. Vielleicht verhilft die spanische Regierung aber genau mit ihrem Agieren den Sezessionisten zum Sieg.

Wer ganz korrekt sein wollte, dürfte nicht einmal mehr von einer Volksbefragung sprechen, weil jede Form von Befragung und Konsultation verboten wurde. Wie bekannt, haben sich Madrid und Barcelona in den vergangenen drei Monaten ein regelrechtes Katz- und Mausspiel um den Volksentscheid geliefert.

Die zentralen Insttutionen haben versucht, den Entscheid mit allen Mitteln – unterhalb der Schwelle einer Militärintervention – zu verhindern. Bis jetzt, Samstagabend, vergeblich. Wenn nicht noch in letzter Minute Truppen geschickt werden, wird die Volksbefragung am Sonntag stattfinden.

Vielleicht hat sich Madrid damit abgefunden, die Sache nicht verhindern zu können und vielleicht hofft es auf eine niedrige Wahlbeteiligung oder ein “schottisches Ergebnis”. In den vergangenen beiden Tagen ist um das schicksalsschwere Ereignis eine seltsame mediale Stille eingezogen.

Um die Erinnerung aufzufrischen ein paar Stichworte zum Thema “Katz- und Mausspiel”: Ende September hob das Madrider Verfassungsgericht das Dekret Barcelonas zur Abhaltung eines rechtlich bindenden Referendums als verfassungswidrig auf – woraufhin Barcelona erklärte, dann halt eine unverbindliche Volksbefragung zu machen. Der Oberste Gerichtshof in Madrid untersagte aber auch das. Katalonien darf jedenfalls sein Wahlregister nicht für eine Befragung verwenden.

Jetzt wird das Votum als proceso participativo, also als Akt der Bürgerbeteiligung durchgeführt, wobei die katalonische Selbstverwaltung/Regierung, die Generalitat, die Durchführung der Abstimmung vermutlich an die “Zivilgesellschaft” auslagern wird, an den ihr nahestehenden Pacto Nacional por el Derecho a Decidir, der 3.000 Organisationen umfasst, die für eine Unabhängigkeitsabstimmung eintreten.

An der verfassungsmäßig verbürgten Meinungsfreiheit und der civil society, hofft Barcelona, wird sich Madrid nicht vergreifen – jedenfalls nicht öffentlich.

Die lokale Schulverwaltung hat die Direktoren angewiesen, Tische und Wahlzellen in den Schulen nicht in ihrem Namen aufstellen zu lassen, sondern dies “Freiwillige” tun zu lassen (zu denen die genannten Direktoren selbst oft gehören).

Trotzdem “untersucht die Staatsanwaltschaft die Nutzung von öffentlichen Gebäuden”.

Damit das Ergebnis nicht völlig in die rechtliche Belanglosigkeit abgleitet, kann sich die Generalitat übrigens auch nicht ganz aus der Sache heraushalten. Barcelona hat angekündigt, in jedem Fall die Stimmen auszuzählen und das Wahlergebnis bekanntzugeben.

Tanz um den Anschein von Legalität

Die Konfliktparteien umtänzeln einander wie Boxer im Ring und keine will sich die Blöße geben, offen das Gesetz zu verletzen. Die Katalonen geben vor, die Anordnungen der Höchstgerichte zu respektieren – ohne freilich von ihrem politischen Anliegen abzulassen. Die  Machtorgane in Madrid wiederum scheinen zu glauben, eine politische Entscheidung über Formalakte und juristische Haarspaltereien verhindern zu können – es sind Mätzchen, die für jeden völlig durchschaubar sind. Bisher hat Madrid wenigstens darauf verzichtet, Militär einzusetzen (aber die Guardia Civil in Bewegung gesetzt)

Es geht um nichts weniger als die Einheit des Staats, ein Ziel, das den spanischen Politikern und dem Militär über alles geht. Würde Katalonien aus dem Staatsverband ausscheren, wären wohl die Basken die nächsten.

Nicht nur die zentralen Institutionen, auch die Politiker mimen Gesetzestreue. Rajoy und seine angeblichen Gegenspieler von der sozialdemokratischen PSOE erklären – unterstützt von “ihren” zivilgesellschaftlichen Organisationen -, dass laut geltender Verfassung kein Landesteil das Recht hätte von Spanien abzufallen. Ähnliches hat sicher auch Ferdinand VII den Mexikanern entgegengehalten, als sich diese Anfang des 19. Jahrhunderts von Spanien lossagten.

Heute haben natürlich auch die Katalonen das international verbürgte Recht auf Sezession – so wie die Schotten. Das ist letztlich auch keine komplizierte juristische Kiste mit vertracktem Verfassungsrecht, territorialer Integrität und pipapo, sondern ein Faktum des politischen Lebens, das nicht einfach für nichtexistent erklärt werden kann.

Kein normaler Mensch stellt heute mehr die Rechtmäßigkeit der Sezession der 13 nordamerikanischen Kolonien von England in Frage oder auch nur die Abspaltung von Slowenien oder Kroatien aus der (ursprünglichen) Bundesrepublik Jugoslawien in den 1990ern.

Juristisch ist die Sachlage klar. Jede Nation hat ein Recht auf Selbstbestimmung – das ist bindendes Völkerrecht, das (unter anderem) in Artikel 15 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert ist. Darüber lässt sich nicht wirklich diskutieren. (Die Macht(politik) steht auf einem anderen Blatt. Die kommt – wie Mao gesagt hat – aus den Gewehrläufen.)

Diskutieren lässt sich höchstens, was eine Nation ist und “wie weit nach unten” die ethnoterritorialen Einheiten gehen, die das Recht auf politische Selbstbestimmung haben. (“Darf sich die Republik Kugelmugel für unabhängig erklären?”)

Eins ist aber klar: Es ist schlechterdings unbestreitbar, dass die Katalonen eine Nation bilden. Um das verstehen zu können, muss einem bewusst sein, dass das Territorium, das von den spanischen Königen und ihrer Bürokratie über Jahrhunderte regiert wurde, von mehreren Völkern bewohnt wurde. (Keine Angst, man muss nicht bis Felipe II zurückgreifen – den überlassen wir Schiller.)

 Das zweideutige Erbe des Generalissimus

In den Jahren nach dem Tod Francisco Francos 1975 legte man in Spanien die Grundlagen für eine Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen. Es war von Anfang an klar, dass mit all den zentralistischen Exzessen Primo de Riveras und Francos kein Neuanfang zu machen war – dass aber die Schutzgottheiten des spanischen Zentralismus mit dem Tod des Diktators nicht verschwunden waren.

Deswegen entwickelten Demokraten und demokratische Monarchisten das Konzept der “doppelten Identität” bzw. der “vermischten Nationalität”.

Die Doktrin besagt – grob gesprochen – dass zwar nicht alle Bürger des Königreichs Spanier sind, dass sich aber jeder Ethnos innerhalb des spanischen Staatsverbandes zu verwirklichen hat. Offiziell anerkannt wurden drei nicht-spanische Nationen – Katalonen, Basken und Galizier, die – wie diese Lehre – besagt, “faktisch anders” sind.

Dieser “hecho differencial” begründet in der Verfassung von 1978 aber keinen Anspruch auf staatliche Unabhängigkeit. In den folgenden Jahrzehnten wurden 17 autonome Gebiete mit begrenzter Selbstregierung geschaffen, wie man u.a. diesem Aufsatz entnehmen kann.

Mit dem Kompromiss von 1978 konnte das Militär ebenso leben wie die “zentrifugalen Kräfte” (mit Ausnahme der radikalen Basken).

Das offizielle Katalonien war lange Zeit mit der gefundenen Lösung zufrieden. Es bekam auf dieser Basis 2006 ein neues Autonomiestatut. Dieses scheint aber nicht die Erwartungen der bürgerlichen Nationalisten erfüllt zu haben (die Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten waren sowieso schon immer für die Abspaltung).

 Barcelona will eine “echte Hauptstadt” werden

Nach dem Platzen der Immobilienblase und dem Beginn der Eurokrise begann die bestimmende politische Kraft, die bis dahin im Zweifel “prospanische” CiU, ein bürgerliches Wahlbündnis, umzusteuern, in Richtung staatliche Unabhängigkeit. Es war ein Prozess, der etliche Jahre dauerte. Er gipfelte heuer in der Festlegung eines Termins für ein Unabhängigkeitsreferendum.

Um den allzu absehbaren Vorwurf der Illoyalität zu kontern, warf die Generalitat de Catalunya Madrid vorsorglich untreues Verhalten vor und veröffentlichte ein Dokument, das auf dem juristischen Konzept der “institutionellen Loyalität” aufbaute, das im neuen Autonomiestatut verankert war.

Der Kern des Gedankens war und ist, dass nicht nur die Peripherie dem Zentrum Loyalität schuldet, sondern dass sich das Zentrum ebensosehr an Ausgemachtes und Versprochenes, vor allem aber den den vereinbarten institutionellen Rahmen zu halten habe (Ähnliches gibt es im EU-Recht).

In einem Ende 2013 veröffentlichten zahlengespickten Dokument warf Barcelona den spanischen Regierungen vor, sich fortgesetzt gegen die Verpflichtung zur institutionellen Loyalität zu vergehen. Der auf Englisch übersetzte Text findet sich hier.

Es ist eine lange Liste von angeblichen oder wirklichen sprachlich-kulturellen Übergriffen und Beispielen für interinstitutionelle Konflikte, in denen Katalonien Recht vorenthalten worden sein soll. Darüber hinaus – und das scheint ein wesentlicher Punkt zu sein – soll das reiche Barcelona überproprotional viele Steuern abgeführt, aber nur unterpropoprtional vom Zentralstaat zurückbekommen haben.

Das ist ein Streitpunkt, der in Österreich allen bekannt vorkommen sollte, die etwas mit dem Begriff “Finanzausgleich” anfangen können; natürlich nicht nur in der Alpenrepublik, sondern überall, wo der Gesamtstaat eine regionale Umverteilung vornimmt. (Im Vergleich mit den Katalonen werden sich z.B. die Bayern schwerer mit der Behauptung tun, eine eigene Nation darzustellen und sich deshalb von Deutschland abspalten zu “dürfen”.)

Dass es auch in Spanien eine solche regionale Umverteilung gibt, steht außer Zweifel – ob  diese irgendwie “recht und billig” und/oder angemessen ist, wage ich als Ausländer nicht zu beurteilen.

Die legalistische Argumentation der Generalitat existiert freilich nicht aus und für sich selbst, sondern erhebt sich auf politischen und demoskopischen Tatsachen – zum Beispiel auf dem Faktum, dass eine Generation lang nur 15 Prozent der Katalonen die staatliche Unabhängigkeit wollten, dass sich dieser Wert inzwischen aber auf +/-50 Prozent beläuft.

“Nichts Genaues weiß man aber nicht” und eben deswegen ist die Befragung vom Sonntag so wichtig. Wie immer der Status des Referendums sein mag – in erster Linie wird es die Wahlbeteiligung sein, die über das weitere Schicksal des Autonomie-Prozesses entscheidet. Regierungsnahe “zivilgesellschaftliche Organisationen” (i.e. Madrid-nahe Organistionen) haben dazu aufgerufen, die Abstimmung zu boykottieren.

Gehen nur wenige zur Abstimmung oder fällt das Resultat nicht eindeutig für die Sezession aus, wird es für die separatistischen katalonischen Politiker sehr schwer, ihr Vorhaben umzusetzen. Ist dagegen die Wahlbeteiligung hoch und fällt das Ergebnis klar zugunsten der Separatisten aus, wird Madrid mit keiner noch so gefinkelten juristischen Argumentation den Abfall verhindern können. Die separatistischen Politiker wollen in dem Fall mit vorgezogenen Regionalwahlen ein neues Parlament wählen lassen, das dann eine Unabhängigkeitserlärung vornehmen soll.

Cameron und Rajoy

Nach dem Husarenstreich, der David Cameron in Schottland geglückt ist, sieht das Vorgehen Madrids in den vergangenen Wochen doppelt unvorteilhaft aus. Premier Rajoy, der seit seinem Amtsantritt vor drei Jahren 20 Prozentpunkte – also fast die Hälfte der Stimmen – verloren hat, nimmt heute nicht nur metaphorisch die Attitüde eines Diktators ein, er schaut inzwischen regelrecht irr in die Kameras. Im engeren Sinn des Wortes.

Auf der Insel meinen nicht wenige, dass Cameron am 18. September mehr Glück als Verstand gehabt hat und dass ihm zu dem Zeitpunkt, an dem er dem Referendum zugestimmt hatte, das damit verbundene Risiko nicht bewusst gewesen sei.

Der britische Regierungschef gibt heute nicht nur das Bild des Siegers ab, sondern auch das eines untadeligen Staatsmannes und Demokraten aus echtem Schrot und Korn. Er hat dieses Image deswegen nicht verdient, weil London die Kampagne für den Verbleib beim United Kingdom ziemlich schmutzig geführt und die Schotten andauernd erpresst und bedroht hat.

(Der 18. September würde eine umfangreiche Nachbetrachtung verdienen, aber er ist Schnee von gestern. Es mag gewisse Unregelmäßigkeiten gegeben haben – doch dass diese sechs Prozentpunkte ausgemacht hätten, ist unwahrscheinlich. Manuell falsch ausgezählte Stimmen können keinen so großen Swing bewirken. Schon gar nicht denkbar ist so etwas in einem Fall wie in Schottland, wo die lokalen Machthaber für eine Wahlentscheidung eingetreten sind, die von den Stimmbürgern nicht unterstützt wude.)

Anders als die Medien, die von der Unverbindlichkeit der katalonischen consulta verblendet und daher uninteressiert sind, werden am Sonntag Politiker in ganz Europa nervös in den  Südwesten des Kontinents blicken. Zumindest Politiker aus Ländern, in denen es eigene potenziell abtrünnige Regionen/Nationen gibt. Sie wissen: Schottland muss nicht den Schlussstrich unter das Kapitel “Europäischer Separatismus” gezogen haben.

Vorbote der Zerstörung Spaniens ?

Spanien könnte sehr gut das erste Opfer einer Entwicklung werden, die auch Nationalstaaten wie Belgien oder Italien schwer oder sogar existenziell bedroht. Wie sollte Padanien versagt werden, was Katalonien zugestanden werden musste ?

Ein Auszug Kataloniens würde Spanien sehr, sehr wehtun, weil mit Katalonien ein Fünftel seines Bruttosozialprodukts und ein weit überdurchschnittlicher Steuerzahler das Haus verlassen würde. Spanien würde, müsste letztlich drüber hinwegkommen, will es weiter leben.

Die Politiker der beiden großen (?) spanischen Volksparteien haben sich bei einer Sezession Kataloniens selbst bei der Nase zu nehmen. Nicht nur wegen der unmöglichen Art, mit der die Regierung Rajoy das Referendum zu verhindern suchte.

Auch nicht, weil PSOE und PP mit der Verfassung und den Autonomiestatuten die “Büchse der Pandora” geöffnet hätten, wie die spanischen Zentralisten das vielleicht sehen.

Die Rede ist von einer Entwicklung, die ein wenig, aber nicht viel jünger ist. José María Aznar und José Luís Rodriguez Zapatero haben die Spanier (und Katalonen) genauso hereingelegt, wie die Politiker der anderen europäischen Volksparteien ihre Nationen. Zu einer Zeit, in der Milch und Honig aus Brüssel flossen (die von anderen bezahlt wurden), hat das im Wahlvolk niemanden interessiert.

Aber diese Zeiten haben sich geändert. Die Arbeitslosenquote liegt heute bei 24 Prozent und die Jugendarbeitslosigkeit bei über 50 Prozent.

Und die Bevölkerung gibt Brüssel die Schuld, dass dem so ist und bleiben wird.

Die EU, glauben die Spanier und Katalonen (zum Teil irrig), hat dem spanischen Staat Austerität auferlegt (sie hat es getan, im Hintergrund steht aber die Notwendigkeit jedes Staats, langfristig mit den zur Verfügung stehenden eigenen Mitteln auszukommen).

Die Union, meinen die Iberer, habe mit Hilfe von Aznar und Zapatero das nach-frankistische Spanien seiner staatlichen Identität beraubt. Das ist ein Glaube, der zum Abfall Kataloniens und zur Zerstörung ganz Spaniens führen kann. Das Szenario wird in einem fast 20 Jahre alten wissenchaftlichen Aufsatz fast schon konkret vorhergesagt:

identities_1997
Nationalstaatliche Identität weicht regionaler identität

Das heißt zu Deutsch Folgendes:

“Generell befindet sich das Streben staatsloser Nationen nach Selbstregierung voll in Übereinstimmung mit der veränderlichen Manifestation dieser Dualität; je stärker die ursprüngliche ethnoterritoriale Identität Oberhand über die moderne Staatsidentität hat, desto lauter sind die Forderungen nach politischer Autonomie.

Je stärker ausgeprägt dagegen die staatlich-nationale Identität ist, desto weniger wahrscheinlich sind ethnoterritoriale Konflikte.

In einem extremen Szenario würde die komplette Abwesenheit eines der beiden Elemente der dualen Identität zu einem (…) Bruch in einem aus mehreren Ethnien bestehenden Staat führen. Die Forderungen nach Selbstregierung würden wahrscheinlich die Form von (Forderungen nach) Selbstbestimmung annnehmen. In anderen Worten: Sobald die Bürger einer Gemeinschaft unterhalb des Staats (substate community) ihre Identität exklusiv aus dieser beziehen, wird das institutionelle Resultat dieses Antagonismus ebenfalls dazu tendieren, exklusiv zu sein.”

Exklusiv katalonisch in diesem Fall.

Foto: Pere prlpz, Wikimedia Commons

 

 

Unabhängiger Journalist

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