Weltkrieg I: Hättiwari bei den Diplomaten

“Kontrafaktische Geschichte” nennt sich ein in den vergangenen zehn Jahren zu Ansehen gelangter spin off der Historiographie, der dem nicht Geschehenen nachspürt – nach dem Muster: Was wäre passiert, wären die Perser bei den Thermopylen nicht aufgehalten worden ? Derlei Spekulationen erlauben mitunter nette Aha-Erlebnisse. Manchmal ist kontrafaktische Geschichte aber auch nur eine Selbstverteidigungsmaßnahme professioneller Historiker, wenn die Archivbestände erschöpft und die Themen überweidet sind. In Wien wurde diesen Freitag diskutiert, wie es Europa ergangen wäre, hätte der Erste Weltkrieg vermieden werden können.

Die Diskussion fand in der Diplomatischen Akademie neben dem Theresianum statt, und das hochrangig besetzte Panel hing von Anfang zwei Schulen an: die einen entwarfen mit Lust alternative Szenarien und die anderen sagten: “Neenee, sooo wäre das auf gar keinen Fall gegangen.” Natürlich auf Englisch, weil wir nicht in jenem kontrafaktischen Paralleluniversum leben, in dem sich Amerikaner und Engländer nicht an den Weltkriegen beteiligt haben.

Der US-Politwissenschaftler Richard Lebow imaginierte beispielsweise ein Szenario, in dem der deutsche Reichstag die Kriegskredite von 1914 nicht bewilligte, woraufhin die Entente einseitig Abrüstungsmaßnahmen ausgerufen hätte, was zu einer Stärkung der Sozialdemokratie und anderer Antikriegskräfte geführt und mittelbar eine konstitutionelle Monarchie und einen Machtverlust für die militaristischen Kräfte zur Folge gehabt hätte.

Lebows Sitznachbar, der Historiker Holger Herwig entgegnete daraufhin, das Stimmenpotenzial der deutschen Sozialdemokratie sei beim Kriegsausbruch aber bereits ausgereizt geween. Auch ohne Krieg sei in Deutschland über kurz oder lang eine ziemlich üble Diktatur zu erwarten gewesen. Diese würde Österreich in kürzester Zeit zu ihrem Juniorpartner gemacht haben.

Geoffrey Wawro aus Texas meinte, dass der Krieg auf jeden Fall geführt worden wäre. Die für ihn sinnvollste Fragestellung lag darin, sich zu überlegen, auf welche Weise Österreich-Ungarn eine bessere Performance abliefern hätte können (verloren hätten die Mittelmächte in jedem Fall). Bei dieser Fragestellung fiel Wawrow eine Menge ein,  denn er hatte kürzlich ein Buch über den Zusammenbruch Österreich-Ungarns recherchiert und war dabei mit der Nase auf für ihn unbegreifliche Vorgänge gestoßen worden.

Zum Beispiel, dass Wiener Politiker und Armeeführung nach der Ermordung Franz Ferdinands am 28. Juni erst einmal ein Monat Urlaub eingelegt hatten und das Ultimatum an Serbien daher erst mit einem Monat Verspätung erfolgt war, als die potenziellen Bundesgenossen der Serben bereits mobilisiert hatten.

Wawro bemängelte auch, dass Österreich-Ungarn viel mehr für die Bürokratie ausgegeben habe als für die Armee. Gottseidank konnte ihm klargemacht werden, dass es sich bei ersterem um eine Maßnahme zur Beruhigung der Öffentlichkeit gehandelt hat und dass zweitens eine Umschichtung der Mittel wahrscheinlich nicht gegangen wäre.

Aus Wawrows Buch drängt sich für den heutigen Leser trotzdem der Eindruck auf, dass die Feldherren der Österreicher (und der Russen) Defizite in der Ausrüstung durch vermehrten Einsatz von Kanonenfutter wettgemacht haben. Das Kanonenfutter rächte sich oft damit, dass es ohne besonderen Grund die Flinte wegschmiss und sich mit erhobenen Armen auf den Feind stürzte.

Unabhängiger Journalist

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