Wozu braucht es einen Zeithistoriker aus Natostan? Damit er uns etwas über den Ersten Weltkrieg erzählt, was wir eh wissen, aber so direkt und plump nicht aussprechen wollen: Dass die Minister und Generäle unseres alten Kaisers – und seines präsumptiven Nachfolgers – unsere (Ur)Großeltern in eine Schlacht geschickt haben, für die sie keinerlei ernsthafte Vorbereitungen getroffen haben.
Als Geoffrey Wawro vor einem halben Jahr sein WK I-Buch “A Mad Catastrophe” veröffentlichte, war es in der österreichischen (und deutschen) Historikerzunft mucksmäuschenstill, während sich die englischsprachigen Kollegen in Lob & Hudel ergingen: dass man bisher fast alles über die West-, aber gar nichts über die Ostfront gewusst habe und dass das Habsburgerreich wirklich und wahrhaftig ein Koloss auf tönernen Füßen gewesen sei, was der Autor im Detail….blablabla.
Unsere staatlich gepamperten Klio-Fexe hatten mit ihrem Schweigen insofern recht, als in dem Buch nichts steht, was in Umrissen nicht schon seit 80 Jahren bekannt ist.
Die Englischsprachigen hatten aber auch recht, irgendwie. Denn der Historiker der Universität von Nordtexas leuchtet über 440 Seiten in ein Halbdunkel hinein, das von den vielen zehntausend Seiten, die bisher (auf Deutsch) darüber geschrieben wurden, nicht so recht erhellt worden ist. Das heißt: zwar ist darüber geschrieben worden – aber halt nicht so….rhetorisch-pointiert und so bösartig, könnte man sagen.
Vor allem nimmt der Mann eine Aussichtsposition ein, die man zwar z.B. in einem US-War College haben kann (vielleicht sogar einnehmen muss), die man als europäischer Uni-Historiker aber keinesfalls zu erkennen geben sollte, wenn man vermeiden will, dass einem die nächste Vorlesung von einem Trupp eifernder, pardon: engagierter Hörer gesprengt wird.
Es ist eine überzeitlich-imperiale, amoralische Warte und ihre zentrale erkenntnisleitende Frage lautet: Was hat die Führung des Staats/Empires XY getan, um ihre Macht nach innen und außen abzusichern und/oder zu mehren ?
Anders als die europäischen, speziell österreichischen Kollegen redet Wawro hier nicht um den heißen Brei herum, sondern stellt fest: Franz Josef und die von ihm eingesetzten “Manager” waren in in dieser Perspektive Totalversager, Losertypen, die in der modernen Geschichte ihresgleichen suchen.
Das ist natürlich eine Perspektive, mit der man typische Geisteswisenschafts-Studierende von heute nicht von sich begeistern kann und auch die Habsburg-Nostalgiker, die es hier in wirklich jeder Geschmacksrichtung gibt, sind von einem solchen Blickwinkel nur mäßig begeistert.
Wawro hat die Frage aber nun einmal gestellt (und beantwortet) und deshalb wurde er (bis vor kurzem) auch nicht nach Wien eingeladen.
Sein Urteil ist leicht zu erahnen: Österreich ist binnen hundert Jahren von einer westeuropäischen Führungsmacht (während des Wiener Kongresses) zur Lachnummer des Ersten Weltkriegs degeneriert. FJ I hat in seiner langen Regierungszeit nicht nur militärisch alles verloren, was möglich war, er hat mit seiner Ungarn-Politik und seiner chronischen Reformunfähigkeit auch innenpolitisch alles vermurkst, was es zu vermurksen gab.
So. Jetzt kann man das alles irgendwie sympathisch finden oder auch nur ironisieren/bespötteln wie das weiland schon Robert Musil getan hat – aber das ist halt nicht die Warte eines heutigen Kriegsgeschichtsprofessors aus Natostan.
Genau hier liegt das Interessante des Buchs. Wawro stellt nüchtern fest, was deutschnationalistische Historiker nur unter Pfiffen und Buh-Rufen von sich geben könnten: dass Österreich-Ungarn 1914 militärisch an Serbien gescheitert ist und an der Ostfront die Russen nicht zum Stehen bringen konnte (wie sich die Achsenmächte das vor dem Krieg ausgemalt hatten); und dass das deutsche Militär schon im eigenen Interesse beides erledigen musste. Wawro sagt es so nicht, aber er ist nahe dran: dass Willelm zwo mit einem solchen engsten Verbündeten den Krieg unter keinen Umständen gewinnen hätte können, mit der besten “Militärmaschinerie” des Sonnensystems nicht.
Das ist eigentlich bekannt, man redet nur nicht darüber, weil man schnell in den Geruch kommt, noch nachträglich mit dem Berliner Imperialismus zu fühlen.
Der Wert von “Mad Catastrophe” liegt darin, dass es mit dem Instrumentarium des Militärhistorikers da weitermacht, wo der Schriftsteller Karl Kraus in seinen “Letzten Tagen der Menschheit” stehen geblieben ist; in jenen Szenen, in denen Dummheit, Unfähigkeit, moralische Verkommenheit und Korruption der k&K-Soldateska geschildert werden.
Irgendwo in den “Letzten Tagen der Menschheit” gibt es einen Auftritt, in der sich zwei k&k-Offiziere darüber unterhalten, dass das deutsche Militär bisher den Kahn der Achsenmächte flottgehalten hätte, was der eine sinngemäß so kommentiert (ich zitiere aus dem Gedächtnis): “Ja, Kunststück ! Mit Organisatiaun !”
Wawro zeigt, dass die militärische Inferiorität der k&k-Armee nicht nur an der mangelnden Organisation lag, sondern an einer teuflischen Melange Dutzender Faktoren, einer Mixtur aus militärischen Fehlentscheidungen, jahrzehntelanger budgetärer und waffentechnischer Vernachlässigung und den negativen Folgen der “Diversität” einer Organisation, in der 15 Sprachen gesprochen werden.
Wawro hat für all diese “Details” einen scharfen Blick. Er hat ein Erkenntnisgerüst, das unsere Historiker nicht haben, die Kenntnisse eines Chronisten des zeitgenössischen Empires Nummer 1.
Die Dinge von “Mad Catastrophe” liegen 100, 150 Jahre zurück und spielen auf einem anderen Kontinent und daher würde ich Wawros Urteil, wenn es um die angesprochenen Fragestellungen geht, trauen.
Seine Meinung zu Fragen der amerikanischen Nahostpolitik würde ich aber nicht als Kompass nehmen. Er hat zwar 1000 Seiten darüber geschrieben, aber das heißt gar nichts, wie sich folgendem Youtube-Clip entnehmen lässt.
Es ist ein Fox-Interview von vor einem Monat, in dem er die Obama-Ankündigung eines “Koalitionskriegs” gegen die ISIS interpretiert und im Stil einer loyalen Opposition kritisiert. Er verliert kein Wort darüber, dass eine solche Organisation ohne Wissen und Zutun der USA gar nicht hätte entstehen können und vernebelt sogar nach Kräften (“ISIS is a tactical ally of Bashar al Assad”).
Ich nehme Wawro schlicht und einfach nicht ab, dass er nicht imstande ist zu erkennen, dass ISIS ein nur “taktischer Feind” oder vielleicht sogar ein “strategischer Bündnispartner” seines Imperiums ist. Aber auch das ist eine andere Geschichte.
Prof. Wawro tritt am Freitag, den 7.11. sowie am 10.11. in der Wiener Diplomatischen Akademie auf. Die Veranstaltungen sind offenbar öffentlich zugänglich, eine Anmeldung wird aber verlangt.
Literatur: Geoffrey Wawro, A Mad Catastrophe. The Outbreak of World War I and the Collapse of the Habsburg Empire, 2014
Edit, 6.11.2014, 15.00 Uhr: Der vorletzte Satz wurde mit den rot gefärbten Satzteilen ergänzt: “dass ISIS ein ‘nur taktischer Feind’ oder vielleicht sogar strategischer Bündnispartner’ seines Imperiums ist.”
Das mit dem “taktischen Feind” sollte klar sein. Der islamistische Terrorismus scheint darüber hinaus seit 1979 ein strategischer US-Bündnispartner im Mittleren Osten zu sein. Damals halfen die USA dem afghanischen Widerstand gegen das Najibullah-Regime/die sowjetische Invasion.
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