NATO-Erweiterung: Nicht übern Tisch gezogen, nur ausmanövriert

Gorbi-GlatzeWest-Liebling Gorbatschow gibt beim Gedenken an den Fall der Berliner Mauer den USA und Europa die Hauptschuld am neuen Kalten Krieg. Flugs wird die Botschaft auf den OP-Tisch gelegt und siehe da – nach der Operation lautet Gorbatschows Aussage: “Gorbatschow sieht in der Nato-Osterweiterung keinen Wortbruch”. Unsere Medien mögen leben ! Hoch, hoch hoch !

“Auf kurze Sicht standen die Vereinigten Staaten damit als Sieger da. Sie und die Bundesrepublik hatten Gorbatschow gekonnt ausmanövriert und den Geltungsbereich der Nato auf Ostdeutschland erweitert, ohne Versprechen über die Zukunft des Bündnisses abgeben zu müssen.”
Mary Elise Sarotte, US-Historikerin im Oktober 2014 in der “Zeit”

In seiner Rede in Berlin warf Gorbatschow dem Westen vor, die 1989/1990 abgegebenen Versprechungen gegenüber der Sowjetunion nicht erfüllt, die Schwächen ihres Nachfolgers ausgebeutet und und einen neuen Kalten Krieg ausgelöst zu haben.

Putin, meinte Gorbatschow u.a., beschütze mehr als jeder andere die Interessen Russlands. Mit dieser seltsamen Ansicht versuchte er auch die westlichen Politiker anzuagitieren.  Was laut “Le Monde” für “frostige Stimmung” sorgte. Kein Wunder, lenkt es doch von der Botschaft ab, dass es “die Welt” mit einem irren Hitlerwiedergänger zu tun hat, der um jeden Preis gestoppt werden muss.

Speziell nahm sich Gorbi in seiner Berliner Rede der EU an.

“Statt die Führung für die Veränderung in einer globalen Welt zu übernehmen, hat sich Europa in eine Arena politischen Aufruhrs, des Wettbewerbs um Einflusssphären und schließlich militärischen Konflikts verwandelt.”

“Die unvermeidliche Konsequenz ist, dass Europa zu einem Zeitpunkt schwächer wird, an dem andere Machtzentren stärker werden. Wenn das so weitergeht, wird Europa auf globaler Ebene (s)eine starke Stimme verlieren und nach und nach irrelevant werden.”

Der Mann mag mehr gesagt haben, aber dies sollte eigentlich ausreichen um zu schildern was den 84-Jährigen so bewegt.

Was haben nun unsere “lieben Medien” aus dem Anlass gemacht (um Gorbatschow zu zitieren)? Speziell die Transatlantiker-Lobby, die sich noch immer die Wunden leckt, die ihr von einer publizistikwissenschaftlichen Studie und einer Satiresendung im TV beigebracht wurden?

Sie haben die Gorbatschow-Aussagen einfach umgedreht – schwuppdiwupp.

Zeitonline_Gorbtaschow
Quelle: Zeitonline

Ausgangspunkt war ein heftig geschnittenes ZDF-Interview, das hier, in der Mediathek (noch) zu sehen ist.

Das Interview belegt wenig mehr als den Umstand, dass Journalisten  mit Suggestivfragen arbeiten, damit der als Antwort darauf abgesonderte Soundbite für eigene Zwecke verwendet werden kann. Kommunikationsziel schien es gewesen zu sein, Gorbatschow sagen zu lassen, dass er 1990 nicht über den Tisch gezogen worden sei.

Das hat Gorbi aber nicht gesagt – zumindest ist das aus dem Beitrag nicht ersichtlich. So wie sie hinterher zusammengestoppelt worden sind, sind seine Aussagen nicht zu gebrauchen. Dafür fehlt der Kontext – um gar nicht davon zu reden, dass wenigstens ein Hauch von “Quellenkritik” angebracht gewesen wäre. Schon mal davon gehört ?

Gorbatschow ist offensichtlich bemüht, zu erklären, warum es im Februar 1990 gar nicht möglich gewesen wäre, einen formellen Vertrag mit der NATO abzuschließen und “warum sich diese Frage gar nicht stellte”. Diese Passage scheint eher eine Antwort an Gorbatschow-Kritiker in Russland denn eine Aussage für die deutschen Fernsehzuschauer zu sein.

Gorbatschow erklärt deutlich vernehmbar, dass ein vereinigtes Gesamtdeutschland der NATO beitreten durfte, weil es keine Möglichkeit gegeben habe, das einem souveränen Staat zu verbieten. Das ist  m.E. eine Ausrede, aber die Einbeziehung der DDR ist ein hochoffizielles Verhandlungsergebnis aus Camp David und wird von niemandem bestritten.

Gorbatschow scheint weiter zu sagen, dass es über die Frage der Osterweiterung keine Gespräche mit den USA und der NATO gegeben habe – aber er spricht es nicht aus. Die Frage wird vom Beitragsgestalter aus dem Off beantwortet. Er sagt: “Er (Gorbatschow) wehrt sich gegen die Behauptung, der Westen hätte ihn damals über den Tisch gezogen, insbesondere in der Frage der NATO-Osterweiterung.”

Es ist klar, warum Gorbatschow derlei öffentlich nur schwer aussprechen könnte – auch heute nicht.

Wenn er das Thema damals selbst forciert hat, hat er zu erkennen gegeben, dass er, der oberste Entscheider des Warschauer Pakts, mit dem Zusammenbruch oder zumindest einem Schwächeanfall seines Militärbündnisses rechnete. So etwas kann ein Staatsmann in tiefen Verhandlungen, streng im Off anklingen lassen – so etwas kann er nicht sagen, wenn er sich nicht selbst belasten will – selbst nach 25 Jahren nicht.

Die bisher bekannt gewordenen Quellen sprechen trotzdem eindeutig dafür, dass die NATO-Osterweiterung ein Thema bei den 2 + 4-Gesprächen war und eine wesentliche Rolle für die deutsche Wiedervereinigung gespielt hat. Die amerikanische Historikerin Mary Sarotte hat sich ausführlich mit der damaligen Situation beschäftigt und einen längeren Artikel in der Zeit veröffentlicht.

Sarotte glaubt, dass es zwar keine schriftliche Übereinkunft gegeben hat, dass der damalige US-Außenminister James Baker einen Verzicht auf die NATO-Osterweiterung aber zugesagt hat.

Baker
Quelle: Die Zeit

Und dass Kohl und sein Außenminister das auch versichert hätten um die Zustimmung zur Wiedervereinigung zu erhalten. Kohl sprach später ausdrücklich davon, von Gorbatschow “grünes Licht” für die Wiedervereinigung erhalten zu haben. Auch vage, später nicht (ganz) eingelöste Zusagen von Wirtschaftshilfe seitens Deutschlands dürften eine wichtige Rolle gespielt haben.

Alles in allem wertet Sarotte die Angelegenheit als Triumph für den Westen, weil dieser viel erhalten habe, wofür aber kaum etwas hergegeben worden sei. Staatsmann Gorbatschow scheint damals ein schlechtes Blatt gehabt und sich außerdem nicht eben Bestform befunden zu haben, um das so vorsichtig auszudrücken. Dafür geniert er sich noch heute.

Um es sickern zu lassen noch einmal das bereits eingangs zitierte Resümee der amerikanischen Historikerin:

“Auf kurze Sicht standen die Vereinigten Staaten damit als Sieger da. Sie und die Bundesrepublik hatten Gorbatschow gekonnt ausmanövriert und den Geltungsbereich der Nato auf Ostdeutschland erweitert, ohne Versprechen über die Zukunft des Bündnisses abgeben zu müssen.”

Also wie jetzt, was jetzt ? “Nicht über den Tisch gezogen”, wie der ZDF-Journalist sagt, sondern nur “gekonnt ausmanövriert”, wie die US-Historikerin meint ?

Die Wortklauberei ist eigentlich nicht der Mühe wert, denn das Gesamtbild ist deutlich erkennbar: einem in der Defensive befindlichen Politiker ist ein Ja zur deutschen Wiedervereinigung entlockt worden, indem man ihm Dinge in Aussicht gestellt hat, die nicht eingelöst wurden (und deren Einlösung sowieso niemals durchsetzbar war). Unverkennbar ist auch, dass jenem, der auf sowjetischer Seite für das Versäumnis verantwortlich war, dies heute noch peinlich ist.

Schlimm nur, dass deutsche Journalisten dieses Bild nach allen Regeln der Kunst zu vernebeln versuchen, Leute, die theoretisch an einen öffentlichen Informationsauftrag gebunden sind und für deren Gage der deutsche “Steuer(Gebühren)Zahler” herhalten muss.

Es sind handwerklich gesehen keine schlechten Journalisten: Den Medien Mythenbildung attestieren zu lassen und gleichzeitig selbst Mythen zu spinnen hat etwas. Das ist Hohe Schule. Gott sei Dank hat Deutschland seine staatlich alimentierten, “seriösen”Mythen-Spinner !

 

Unabhängiger Journalist

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