Exkurs: Die Beseitigung der österreichischen Neutralität

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Heldenplatz 1938, Vereidigung auf Hitler

Der Originaltext, der diesem Posting zugrunde liegt, befasst sich mit der faktischen Abschaffung der “immerwährenden Neutralität”im Zug des Beitritts zur Europäischen Union. Die Sowjets hatten 1955 den Verzicht auf eine militärische Westintegration zur Voraussetzung für die Wiedererlangung der politischen Selbstbestimmung gemacht. 40 Jahre später machte der EU-Beitritt die Reform des Gesetzes notwendig – Veränderungen, die von den Staatsbürgern akzeptiert wurden.

Heldenplatz 1955: Soldaten der Besatzungsmächte
Heldenplatz 1955: Soldaten der Besatzungsmächte

Doch schon in den Jahren danach gingen Sozialdemokraten und Volkspartei weit über das erforderliche Maß hinaus und verwässerten das Gesetz bis zur Unkenntlichkeit. Seither sind “friedensschaffende Maßnahmen” auch ohne UN-Mandat erlaubt.

Die Umwertung der Werte bis dahin geltenden staatspolitischen Werte begann bereits Jahre vor dem formellen Exitus der Sowjetunion. Ausgangspunkt dieser ideologischen Wende war die – korrekte – Beobachtung, dass der bisherige vökerrechtliche Status eine Folge glücklicher historischer Umstände gewesen war, einer Ausnahmesitutation sozusagen. Und dass die jetzt erforderliche logische Antwort auf veränderte Situation die Integration in ein westliches (Selbst-)Verteidigungsbündnis sein musste – in die NATO oder in eine erst zu bildende, autochthone Westeuropäische Verteidigungsgemeinschaft.

Das war eine Ansage, gegen die unter den damaligen Voraussetzungen nur sehr schwer argumentiert werden konnte.Die Welt war mit dem Ende des Warschauer Pakts eine andere geworden und nur verhockte, pathologische Scheu vor Veränderungen schien eine befriedigende Erklärung für das Festhalten an alten Zöpfen zu bieten.

Doch spult man heute die vergangenen 20 Jahre fast forward, steht man vor einer Situation, die noch einmal anders ist als zum damaligen Zeitpunkt zu erwarten. Der europäische Kontinent ist erneut gespalten – in eine vorgeblich selbstbestimmte Europäische Union und eine vorgeblich unfreie orthodoxe Welt östlich der Ukraine. Gravitationszentrum ist dort ein nicht-kommunistisches, aber mit modernen Atomwaffen ausgestattetes Russland, das – mit oder gegen seinen Willen – als Führungsmacht für eine multipolare Weltordnung angesehen wird.

Westlich davon hat die NATO ihren Charakter als regionales Defensivbündnis abgelegt, dessen Hauptzweck es ist, die Souveränität der Mitgliedsstaaten zu schützen.

Sie operiert weltweit als verlängerter Arm des angloamerikanischen Imperiums (Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien). Ihre einzigen (offiziellen) Einsätze in einem heißen europäischen Krieg haben im ehemaligen Jugoslawien stattgefunden, in Aktivitäten, die nur teilweise durch das Völkerrecht gedeckt waren. Spätetens seit damals hanbdelt die NATO unzweideutig offensiv und unilateral.

Nirgendwo musste der klassische “Bündnisfall”, die ursprüngliche raison d’etre der Vertragsgemeinchaft ausgelöst werden. Unter diesem Begriff wird der militärische Angriff auf einen Mitgliedsstaat verstanden, der die anderen Bündnispartner zum Beistand verpfichtet. Zum ersten und bisher einzigen Mal rief die NATO diesen nach den dubiosen Terroranschlägen vom 11. September 2001 aus, “dem bewaffneten Angriff der Taliban oder Al Qaidas auf die USA”. Er ist bis heute in Kraft.

Trotz – oder wegen – des Untergangs des kommunistischen Imperiums, rückte der Nordatlantikpakt Schritt um Schritt nach Osten vor – trotz der Versprechungen, die den Führungsfiguren der untergehenden Sowjetunion gemacht worden waren.

Deren Hoffnungen auf ein gemeinsames europäisches System der kollektiven Sicherheit erfülten sich nicht. Fast sieht es so aus, als wäre es schon vorher, während des Kalten Kriegs nicht um Systemkonkurrenz, sondern um die Machtfrage und einen “Kampf der Kulturen” gegangen. Seit dem Ausbruch der Ukrainekrise zeigt sich das besonders deutlich.

Das Kapitel, das morgen, Dienstagabend online geht, ist vor dem Beginn der aktuellen Ukrainekrise geschrieben worden, deshalb finden sich in ihm auch keine außenpolitischen Handlungen und Unterlassungen Wiens während dieser Krise.

Formalrechtlich ist das Neutralitätsgesetz heute noch in Kraft, seine die faktische Abschaffung und sein langes roll back ist jedoch seit bereits 1994,  vor dem EU-Beitritt, unterwegs. Das Verfassungsgesetz wurde von SPÖ, ÖVP, Liberalem Forum und ein paar versprengten Grünen verabschiedet. Mit ihm wurde die ursprüngliche Neutralität einer ersten größeren Revision unterzogen. Ohne diese “Neutralität light” könnten heute keine Sanktionen gegen Russland verhängt werden.

Ein weiterer wesentlicher Faktor füre die Beseitigung der der Blockfreiheit war das Zerbrechen Jugoslawiens, das ja eigentlich bereits nach dem Ersten Weltkrieg entstanden war (nur die sozialistische Staatsform war eine Folge des Zweiten Weltkriegs gewesen). 

Der jugoslawische (Bürger)Krieg hatte einen Doppelcharakter. Einerseits war er ein genuiner, innerjugoslawischer Prozess, in dem Slowenen, Kroaten und Bosnier “Los von Belgrad wollten. Andererseits spielten ausländische Player – besonders auch Wien – eine wesentliche Rolle. Die endgültige Auflösung geschah nach einer der heute so vertraut gewordenen “nutzbringenden Bombenkampagnen”, mit der die NATO Belgrad im Frühjahr 1999 bedachte.

Zu diesem Zeitpunkt ließ Wien die Maske fallen. Außen-und Verteidigungsministerium befürworteten im Vorfeld der Kampagne den Transit von Soldaten und Equipment (“zu Friedenszeiten”) und warben für einen Vollbeitritt zu einem späteren Zeitpunkt. Beide Ministerien wurden damals vom konservativen Koalitionspartner geführt.

Der Vorstoß war wenig populär und die Sozialdemokraten witterten eine Gelegenheit, politisches Kapital daraus zu schlagen. Doch ihre Verteidigung der Neutralität war priimär ein wahltaktisches Manöver.

Nicht nur dass das “rote” Kanzleramt davor laufend Transporte durch das österreichische Staatsgebiet abgesegnet hatte (APA 91, 11.3.1999); die sozialdemokratische Parlamentsfraktion hatte auch den sogenannten Petersberger Aufgaben des Vertrags von Amsterdam zugestimmt. Die Klausel besagte, dass sich Österreich auch an friedensschaffenden Maßnahmen ohne UN-Sanktus beteiligen dürfe – was selbst in einem solchen Fall wohl diskussionsbedürftig wäre. (APA, 68, 3.6.1999)

All das waren keine Zufälle. Auch die Sozialdemokraten waren seit zehn Jahren an der Aushöhlung der ungeliebten Neutralität beteiligt gewesen.

Bis heute hält sich von realpolitisch-rechts bis schöngeistig-links der Mythos, dass der Neutralität ein moralischer Makel anhaftet. Sowohl Bürgerliche als auch Sozialdemokraten sind in einem dualen politischen Kosmos großgeworden, in einer manichäischen Welt, in der die Nichtteilnahme an der Konfrontation moralisches Versagen bedeutet.

Nach dieser Theologie hatte sich die Alpenrepublik 1955 der Not gehorchend entschließen müssen, den Guten die Unterstützung zu versagen. Und jetzt, endlich, endlich sah man die Gelegenheit, sich “aus freien Stücken auf die richtige Seite” zu schlagen…

Foto: Das Bundesarchiv + Werner Rudolf, Wikimedia Commons

 

 

 

 

 

 

Unabhängiger Journalist

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