Was hat Jefferson jungen Europäern von heute zu sagen?

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“Die Welt gehört den Lebenden” – Jefferson mit 40

Kurz zusammengefasst Folgendes: Lasst euch nicht wie die Schafe in einen riesigen Zentralstaat treiben! Misstraut euren Führern, denn sie sind unfähig und zuerst auf den eigenen Vorteil bedacht! Und: Rebelliert gegen die Schuldknechtschaft, die euch von eurer Elterngeneration zugedacht worden ist!

Wer war Thomas Jefferson ? Ein Mann, über den jedes amerikanische Schulkind ein paar Sätze sagen könnte – aber kaum ein europäisches. Er war einer der Gründerväter der USA, ein Politiker und Gelehrter, der sich für “die Indianer” ebenso interessierte wie für Architektur und Botanik. Er war ein Genie und Erfinder, der Vorläufer von Chiffriermaschine und Kopierer ersonnen hat. Ein Sklavenhalter, der eigentlich gegen die Sklaverei war (und der mit einer unfreien Dienerin seiner Tochter Kinder zeugte).

Jefferson war ein Diplomat und Gentleman, einer, der auf großem Fuß lebte. Jemand, der nach heutigen Maßstäben auf dem wirtschaftlichen Höhepunkt seines Lebens Milliardär gewesen ist, der aber, mit Schulden überladen, fast mittellos starb. Er war, wie ein Heutiger geurteilt hat, eine “Amerikanische Sphinx”, eine Mischung aus enormem Scharfsinn und (mitunter) grenzenloser Naivität.

Als 30-Jähriger verfasste er den vielleicht berühmtesten Satz der englischen Sprache:

“We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.”

“Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen und dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräusserlichen Rechten ausgestattet worden sind, unter ihnen das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück.”

Der Satz steht in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, in der sich 13 Kolonien von der britischen Krone lossagten. Die Kolonien haben diesen Schritt mit einer Latte von Verfehlungen begründet, die der britische König gesetzt haben soll. In einem drei Jahre dauernden Krieg konnten sie ihre politische Selbstständigkeit auch militärisch durchsetzen.

Doch schon zwanzig Jahre danach, kaum dass die neue Verfassung in Kraft war, gab es unter den Revolutionären tiefe Meinungsverschiedenheiten über die Richtung, in die der junge Staat segeln sollte. Die Diskussionen begannen bei der Suspendierung der geheiligten Freiheitsrechte für bestimmte Ausländer (Franzosen) und zogen sich in einem weiten Bogen bis zur Frage, mit wie viel Macht die Zentralregierung in Washington ausgestattet werden sollte.

Jefferson glaubte an die Freiheit des Einzelnen und die Gleichheit aller vor dem Gesetz – etwas, was bis zum heutigen Tag nicht überall gern gesehen wird. Der aus Virginia stammende Politiker trat auch dafür ein, die ultimative politische Macht bei den Teilstaaten – also den ehemaligen britischen Kolonien – zu belassen.

Und er wollte soviel Freihandel wie möglich – obwohl praktisch kein Handelspartner der Vereinigten Staaten eine Republik/ein demokratischer Staat war. Jeffersons Gegner waren dagegen, denn sie wollten die erst im Entstehen begriffene amerikanische Industrie gegen europäische Konkurrenz schützen.

Sein hervorragendster Gegenspieler hieß übrigens Alexander Hamilton, ein enger Mitarbeiter von Staatsgründer Washington, der ein paar Jahre lang Finanzminister war. Hamilton wurde 1804 vom amtierenden US-Vizepräsidenten Burr, Jeffersons Stellvertreter, über den Haufen geschossen. Nicht aus politischen Gründen, sondern in einem Pistolenduell, nachdem sich Hamilton über angebliche moralische Verfehlungen Burrs lustig gemacht hatte.

Die Gegner Jeffersons wurden Föderalisten genannt – paradoxerweise, obwohl sie für eine Zentralisierung der politischen Macht eintraten. Die neue Partei Jeffersons hieß demokratisch-republikanische Partei. Sie hatte kaum etwas mit den heutigen Republikanern und Demokraten gemeinsam.

Jefferson war etwas, was heute abfällig “Washington insider” genannt würde. Er gehörte bis zu seinem Tod praktisch ununterbrochen dem innersten Führungszirkel an. Deswegen konnte er wie kein anderer beobachten, wie rasch  sich die Regierungspraxis von den Zielen der Revolution entfernte. Er war ein Kritiker aus dem Innersten des inneren Kerns.

Noch heute wird er in den USA als politisches Denkmal verehrt – ohne dass das, was ihm ein Anliegen war, noch besondere Beachtung fände.

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Jefferson-Schädel in Mount Rushmore (Zweiter von links)

Besondere Sorge bereitete ihm die Entwicklung eines hausgemachten amerikanischen “Pseudo-Adels”. Er sah, wie reiche Familien immer mehr Einfluss und lukrative Ämter gewinnen konnten. Sie bildeten eine neue Elite, die den jungen Staat für ihre privaten Interessen nutzte, eine Oberschicht, die auf nichts anderes als auf ererbtes Geld und sozialen Status pochen konnte. Kaum anders als die englischen Adeligen, gegen die man soeben einen Krieg gewonnen hatte.

Im Gegensatz dazu sah Jefferson eine natürliche (nicht erbliche) “Aristokratie”, die auf Fähigkeiten und Verdiensten gründete, als unverzichtbar an. Er wusste: Die Republik brauchte gute und nicht-korrupte Leute, um ihre politischen Geschäfte zu besorgen.

Jefferson fürchtete, dass die “künstliche Aristokratie” früher oder später einen Erbadel bilden würde und die “unsere heute weltbeste Regierungsform (Republik) in die schlechteste verwandeln wird.” Er versuchte über Gesetzesinitiativen zu verhindern, dass die Pseudoaristokraten die Macht an sich reißen konnten (neue Regeln für die Bestellung des Senats, Beschränkung der Amtszeit des Präsidenten – die erst viel später kam). Aber er war sich schmerzhaft bewusst, dass das alles nicht ausreichen würde, um das Befürchtete zu verhindern.

Gegen die Verslavung der Nachgeborenen

Schon früh gelangte er zur Überzeugung, dass selbst in der besten aller Staatsformen, in einer Republik wie der amerikanischen, alle paar Jahrzehnte eine Art Revolution stattfinden musste, damit neue Generationen das System nach ihren Wünschen umgestalten könnten. Kein Geschlecht habe das Recht, dem folgenden Beeinträchtigungen und Zerstörungen zu vererben. Es dürfe keine Schulden und keine politischen Weichenstellungen hinterlassen, die nicht mehr korrigierbar seien, meinte er.

In einem Brief an seinen späteren Nachfolger im Präsidentenamt, James Madison, schrieb er am 6. September 1789:

“Ich halte es für einleuchtend, dass der Fruchtgenuss der Erde den Lebenden gehört und dass die Toten weder die Macht darüber noch ein Recht auf ihn haben. Der Anteil, den jeder (lebende) Einzelne daran hat, hört mit dessen Tod zu bestehen auf und fällt an die Gesellschaft zurück.”

Das ist ein sehr radikaler Gedanke, den man so nicht unterstützen muss. Er spricht aber eine Wahrheit aus, die nicht selbstverständlich ist: Jede Generation wird zwar in eine vorgeformte Welt geboren, aber jede hat das Recht, ihre Angelegenheiten anders zu  regeln als ihre Eltern – und sie hat das Recht, dies unbelastet tun. Schon gar nicht ist sie für die Fehler ihrer Eltern und Großeltern verantwortlich. Jefferson wollte einen solchen Grundsatz sogar zu einem Regierungsprinzip machen.

Er fragte: Wenn einer Person oder Generation die Versklavung der Nachgeborenen erlaubt würde, würden diese nicht “während ihrer Lebenszeit den Fruchtgenuss des Landes (…) im Voraus konsumieren und (würde) das Land (damit nicht) den Toten statt den Lebenden gehören – was das Gegenteil unserer Prinzipien darstellen würde.”

Was hat das alles mit Europa anno 2014 zu tun ?

Etliches mag hier anders liegen als in Jeffersons Welt – zum Beispiel, dass die europäische Staatenbildung nicht gegen einen äußeren Feind durchgesetzt werden muss/kann wie damals. Sie muss gegen einen inneren Feind, die eigenen Völker durchgesetzt werden. Vieles ist aber auch ähnlich. Die wichtigsten Ähnlichkeiten (und die Unterschiede innerhalb dieser) sind:

Erstens, dass sich auch im heutigen Europa eine künstliche Aristokratie gebildet hat, die zwar keine Adelstitel trägt, die sich aber ebenfalls anmaßt, die Regierungsgeschäfte am Demos vorbei zu führen – und notfalls auch gegen diesen.

Jeffersons künstliche Aristokratie ist hier zu einer Kakokratie, einer Herrschaft der Schlechtesten degeneriert. Unsere politischen Führer sind Menschen, die zwar keinen Kleinbetrieb managen könnten, die aber die Entscheidungen auf oberster Ebene treffen. Sie sind mit ihren Führungsaufgaben geistig überfordert und sie sind nicht in der Lage (oder Willens) europäische Gesamtinteressen nach außen zu vertreten (Klimaverhandlungen, G-20, TTIP, “Ukrainekrise”).

Die europäische Kakokratie besteht aus einer Vermischung der alten nationalen politischen Eliten mit übernational agierenden Eurokraten, die sich als “echte Europäer” legitimiert fühlen, den reformunfähigen Politicos aus den Nationalstaaten den Takt vorzugeben. Es ist – wie ich in meinem Text beschrieben habe – das alte staatssozialistische Modell des liderazgo colectivo; das Regierungsmodell unserer paneuropäischen Junta.

Pseudo-Adel will EU-Zentralstaat

Wie in den USA vor 200 Jahren, wird , zweitens, auch im europäischen Einigungsprozess das Thema Souveränität eine wesentliche Rolle spielen: Wer hat letztlich das Sagen ? Die Bundesstaaten oder die Union ? Und wie in den damaligen United States gibt es auch im heutigen Europa eine babylonische Sprachenverwirrung, in der das eine gesagt und das andere gemeint wird. In den USA wurden aus den Föderalisten des ausgehenden 18. Jahrhunderts die Unionisten des amerikanischen Bürgerkriegs.

Analoges lässt sich von den europäischen Förderalisten vorhersagen, Leuten, die behaupten für dezentrale Strukturen einzutreten. Ihr “Föderalismus” bezieht seine ohnedies schwache Glaubwürdigkeit ausschließlich aus der Wortbedeutung, die es im deutschen Sprachraum innehat. Die Bundesrepublik, die aus einer militärischen Niederlage hervorgegangen ist, ist ein in diesem Sinn tatsächlich “föderaler” Staat – weil die Sieger von WK II dies so haben wollten.

Das Vereinigte Europa von Jacques Delors und seinen Nachfolgern ist aber – unschwer zu erkennen – als zentralistischer Staat angelegt. Es ist heute nur noch nicht opportun, dies zuzugeben. Ob dieses “Design” auch bei uns mit einem Bürgerkrieg durchgesetzt werden “muss”, bleibt abzuwarten.

Der historische Ausgangspunkt des heutigen europäischen Staatsbildungsprozesses ist jedenfalls ungleich problematischer als beim amerikanischen Vorbild (kulturell-sprachliche Homogenität der herrschenden Klasse, Wachstumsaussichten, Demographie, Energie, etc.)

Pseudo-Adel für Schuldeninferno verantwortlich

Zum Schluss sei, drittens, noch einmal an Jeffersons Zitat über das prekäre Verhältnis der Alten/Toten zu den Jungen/Ungeborenen erinnert. Es legt den Finger auf ein universelles Problem. Dieses ist für das heutige alte Europa aber ungleich bedrohlicher als für das junge Amerika vor 200 Jahren. Wenn es eine Ecke der Welt gibt, in der die Alten und Toten unumschränkte Macht über die Jungen und Ungeborenen ausüben, dann ist das der Raum zwischen Lissabon und Warschau.

Das ist nicht verwunderlich. Denn diese “unsere” Union ist in vielerlei Hinsicht der logische Nachfolger des Mismanagements, das in deren Mitgliedsstaaten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts getrieben wurde. Die vorgeblich frischen Gesichter der union sind in Wahrheit die alten Fratzen aus den Nationen.

Um das zu erkennen, braucht man nur die Biographien der “Minister” der neuen Kommission zu überfliegen. Diese Gang setzt sich aus denselben Leuten zusammen,  die schon ihre früheren Gemeinwesen schlecht verwaltet und mit Schulden überhäuft haben (ihr “Präsident” ist die Krönung dieser Gattung).

Dabei geht es nicht nur, ja nicht einmal primär um die “offiziellen Staatsschulden” (mit oder ohne ausgelagerte Bahn- und Straßengesellschaften). Es geht auch die privaten Unternehmen und die Haushalte. Und um die impliziten Staatsschulden, die aus den Sozialversprechungen herrühren, die die Nationalstaaten gegenüber ihren Bürgern abgegeben haben. Diese betragen wenigstens das Doppelte der (schöngerechneten) offiziellen Staatsschulden.

Hier ist eine Tabelle aus einer sozusagen “offiziellen” Studie, die von einem Institut des Obereuropäers vom Dienst produziert wurde. Für die Akuratesse der Zahlen wird nicht gebürgt, die genannten Größenordnungen sind aber leider richtig.

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Das bedeutet, dass zu den 91 Prozent offizieller Maastricht-Verschuldung, die die Eurozone derzeit aufweist, 231 Prozent addiert werden müssen. Die Frage, ob das “tragbar” ist und ob ein paar Pensions- und Gesundheitsreformen etwas an diesem Gesamtbild ändern, soll sich jeder selbst beantworten.

Wie schrieb der 46-jährige Jefferson in seinem oben zitierten Brief an Madison noch einmal? In seinem Gedankenexperiment, in dem er die Lebensdaten zweier aufeinander folgender Generationen so synchronisierte, als würden die Angehörigen der einen am gleichen Tag geboren werden und am gleichen Tag auch den Löffel ab- und das Staffelholz an die andere Generation weitergeben.

“Keine Generation würde mehr Schulden anhäufen können als jene, die sie selbst abbezahlen kann (…)” Bei Einzelpersonen, argumentierte Jefferson damals, liege der Sachverhalt ganz anders, weil diese allgemeinen (Eigentums)Gesetzen einer konkreten Gesellschaft unterworfen seien. “Doch wenn eine ganze Generation, also die ganze Gesellschaft (zugleich) stirbt und eine andere Generation ihr unmittelbar nachfolgt, (…) kann keine höhere Macht ihr Land einer dritten Gesellschaft geben, die vielleicht Geld an die vorangegangene Generation verliehen hatte ohne es ganz zurückzubekommen (…).”

Von dieser Idee werden, müssen sich wohl auch unsere Kinder und Kindeskinder inspirieren lassen – auch wenn nicht alle an einem Tag geboren worden sind und ihre Welt nicht an einem festen Stichtag übernehmen können.

Literatur:
Dan Sisson, The American Revolution of 1800, 2014

Albert Jay Nock, Jefferson, 1926

John Ferling, Jefferson and Hamilton, 2013

Foto: cliff 1066 – flickr, Sfmontyo, Wikimedia Commons

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Unabhängiger Journalist

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