Ein amerikanischer Altphilologe erschüttert Jahrhunderte alte Gewissheiten: Seiner Darstellung nach war Byzanz keine christlich-theologisch fundierte Autokratie, sondern eine Republik auf Basis einer antiken Volkssouveränität. Nicht nur das. Es war der legitime Erbe jener Leitzivilisation, die das Vorbild des heutigen europäischen Einigungsprojekts ist: Rom. Und es wurde um 1000 Jahre älter als der uns geläufigere, westliche Teil dieses Gebildes.
Die Gründe, warum das heutige Europäer interessieren sollte, sind mannigfaltig. Einer davon lässt sich kurz und pointiert so formulieren: Wenn man den Franken unter Karl Martell gutschreibt, die Araber an der Loire zum Stillstand gebacht zu haben, könnte man vielleicht so nebenbei anerkennen, dass die Oströmer das Gleiche am Bosporus, an der Türschwelle des heutigen Europa bewerkstelligt haben – pc hin und Multikulti her.
Konstantinopel hat damals wie ein Sperriegel fungiert und um das Jahr 700 herum dem Ansturm der Eroberer standgehalten – im Gegensatz zum Westgoten-Reich auf der iberischen Halbinsel. Wäre das Umayyaden-Kalifat bei einer seiner zwei Belagerungen Konstantinopels erfolgreich gewesen, wäre Südosteuropa 700 Jahre vor den Türken islamisch (mit und ohne Anführungszeichen) geworden.
Die Reconquista lehrt, dass nichts ewig währt und unumkehrbar ist – aber das Projekt Wiedereroberung Spaniens hat das “Abendland” immerhin während des gesamten Mittelalters auf Trab gehalten…
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Anthony Kaldellis hat mit seinem vor 14 Tagen erschienen Werk so manche liebgewordene Vorstellung erschüttert und dabei die Federn von ein paar akademischen Pfauen gerupft. Es ist ein geschichtsrevisionistisches Werk erster Größenordnung und sein Autor bekennt sich – seltsam stolz – auch dazu.
Das sozusagen Tückische an der Byzantinischen Republik ist, dass sich Kaldellis nur in seinem Kerngeschäftsfeld, der Byzantinistik, betätigt, dabei aber Steine ins Wasser wirft, die weit darüber hinaus Wellen schlagen müssen.
Zuerst einmal in der benachbarten Academia, der er vorwirft, das alte Rom mit einer vorgefertigten ideologischen Brille zu betrachten, die nur dazu diene, aktuelle ideologische Bedürfnisse zu bedienen, oder besser: frühere solche Bedürfnisse.
Die westliche aufklärerische Geschichtsschreibung habe Ostrom “als Modell verwendet, um zeitgenössische Probleme indirekt zu diskutieren. Sie (die “Aufklärungs-Historiker”) waren nicht an der historischen Wahrheit über Byzanz interessiert; es ging nur um ein bequemes Modell, das sie für ihre politischen Zwecke nutzten.”
Die akademische Disziplin habe dieses Modell zwei Jahrhunderte unhinterfragt verwendet. In Bezug auf Byzanz habe das erstens bedeutet, die oströmischen Wurzeln so gut wie möglich zu leugnen und es zweitens zu einer christlich(-orthodoxen) Theokratie zu verzerren.
Mit seiner Fundamentalkritik trifft Kaldellis aber auch die Historiker und Philologen, die sich mit dem alten Rom (West) beschäftigen und die dabei seiner Meinung nach die falsche Begrifflichkeit und die falschen analytischen Instrumente verwenden. Die Folge sei, dass u.a. die Periodisierung (Republik-Prinzipat-Dominat-Byzanz) fragwürdig sei und dass ständig ahistorische oder schlicht falsche Urteile abgegeben würden.
Kaldellis spricht das aus dieser seiner Historiker-Warte natürlich nicht aus, aber: seine Sicht bringt natürlich auch ein sozusagen systematisches, politisch-ideologisches Thema auf. Er tut immerhin dar, dass Republikanismus und Monarchie nicht zwangsläufig unvereinbar sind (was ein zentraler Glaubensartikel unserer Geschichtsschreibung ist).
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Im Kern behauptet Kaldellis, dass Byzanz eine republikanische Monarchie war, die ihre Legitimationsgrundlagen nicht primär aus dem Gottesgnadentum bezog. Der zweite, noch nicht voll entwickelte Pfeiler seiner Argumentation ist, dass das Herrschaftsgebilde im Vollsinn römisch war – trotz der neuen Hauptstadt Konstantinopel und trotz der späteren Einführung des Griechischen als Amtsprache. Näheres dazu will er in einer erst in Arbeit befindlichen neuen Studie erläutern.
In seinem Blickwinkel sind die Byzantiner nicht zu Griechen geworden, sondern Römer, ein römisches Staatsvolk geblieben.
Wie viele der altrömischen Kommentatoren des Übergangs Republik-Prinzipat, behauptet Kaldellis, dass es eine darunter liegende Kontinuität gegeben habe und dass diese die res publica bzw. politeia gewesen sei.
Der Übergang sei eine zwar gravierende Veränderung, trotzdem aber nur ein Gestaltwandel gewesen – von einer konsularischen zu einer monarchischen Republik (in beiden Fällen unterscheidet sich diese Republik graviernd von dem, was seit 1776/1789 darunter verstanden wird).
Die Befugnisse der Monarchen und ihr Regentschaftssystem, die basileia, seien zwar nie kodifiziert und z.B. in eine Verfassung geschrieben worden – sie seien aber nie mehr als ein Teilaspekt der politeia gewesen. Der Monarch habe zwar gegen die Funktion, das Gesamtwohl zu wahren verstoßen können – das sei aber äußerst gefährlich gewesen. Es sei dies ein Kurs gewesen, der geradewegs in die Steinigung, die Blendung oder dazu geführt habe, die Nase abgeschnitten zu bekommen.
Der Kaiser musste im Konsens mit der poilteia agieren und – den damaligen Erzählungen entsprechend – unermüdlich für das Wohl seines Volks schuften (wer muss da nicht an Kaiser Franz Joseph denken ?)
Kaldellis geht davon aus, dass das oströmische politische System auf etwas beruht hat, was in der modernen Begrifflichkeit als Volkssouveränität bezeichnet wird, wofür er Dutzende Belege von alten Schriftstellern und Historikern anführen kann. Klarerweise reicht das nicht aus. Derlei könnte schöner Schein sein, der von den Schriftstellern in mehr oder minder gutem Glauben postuliert wurde.
Also muss er die ultimative Souveränität des (ost)römischen Volks anhand von Beispielfällen belegen, von denen im Verlauf von 1000 Jahren natürlich einige anfallen können. Er zeigt, wie sich das Volk in Gestalt der Bewohner Konstantinopels punktuell, aber immer wieder in das vermeintlich “exklusive Geschäft” der Regenten eingemischt hat (es mischte sich auch in sakrale Dinge ein, aber darauf geht Kaldellis nicht ein): “The political history of Byzantium was that of a monarchy punctuated by revolutionary popular interventions.”
Der Kaiser kann nur mit Zustimmung der Beherrschten agieren, mit dem “consent of the governed”, wie es in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung heißt.
Der Basileus und die anderen Player des Spiels um Macht und Einfluss hätten damit nicht nur zu leben gelernt, sondern auch gewusst dass sie dies zeigen mussten: “Legitimität bedeutete letztlich Popularität.”
Aus Gründen der Machterhaltung (und des eigenen physischen Überlebens) hätten die Monarchen ständig ihr “Ohr am Volk haben” und sich einen Wettkampf um Beliebtheit müssen. Kaldellis nennt das “Politik der Popularität”, heute würde man abwertend sagen: “populistische Politik”.
Die “imperiale Idee”, der Anspruch, Herrschaft auf Basis eines göttlichen Mandats auszuüben, nahm in der Selbstdarstellung des Basileus zwar den großen Raum ein, war in der Durchsetzung und Erhaltung der Herrschaft aber nur nachrangig – zumindest nach innen, meint der Autor. Das Gottesgnadentum “lässt sich nicht annähernd verifizieren: die Byzantiner, und zwar sowohl die Eliten wie auch das Volk von Konstantinopel, hatten wenig Bedenken zu rebellieren und den von Gott ernannten Herrscher abzusetzen oder gar zu töten; sie taten das sogar regelmäßig.”
Anthony Kaldellis, The Byzantine Republic. People and Power in New Rome. 2015
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