Die blutrünstige Saga vom Debalzewo-Kessel scheint zu Ende. Klar ist derzeit nur, dass es zu einem riesigen Massaker gekommen ist. Etwa dreitausend aus dem Westen des Landes stammende Soldaten versuchten am Mittwoch einen Ausbruch mitsamt einem Teil ihrer Waffen. Mit dem “Erfolg”, dass ein guter Teil aufgerieben wurde. Die Separatisten sprechen von insgesamt mehr als 3500 Toten beim Feind.
Am Mittwoch (im Netz: am Donnerstag) fuhren Panzer, Personentransporter und Lkws, die dem Kessel entkommen waren, wie im Triumph in die von Kiew kontrollierte Stadt Artemivsk ein und der herbeigeeilte Präsident hielt für die Fernsehkameras eine Rede an die Soldaten. Poroschenko war dabei scheinbar von ukrainischsprachigen special ops umgeben, die an der Spitze des Ausbruchs gestanden waren. Auf youtube sah das so aus:
Die Soldaten seien aus dem Kessel spaziert, wollte Kiew der Welt weismachen. Die offiziellen Angaben zu den dabei erlittenen Verlusten belaufen sich auf zwei Dutzend Tote und 150 Verletzte. 2500 Kämpfer und 200 Fahrzeuge seien entkommen.
Das ist freilich eine extreme Behübschung der Fakten, ein Bild, das niemand glaubt. Westliche Korrespondenten in Artemivsk berichten von brechend vollen Spitälern und stellen die Frage: Und wo ist der Rest der Armee? Siehe dazu z.B. Artikel in der New York Times und der Presse in Wien.
Die Separatisten erklärten, bis zu 3500 Feinde hätten im Kessel ihr Leben gelassen, deren Mütter könnten die Leichen ihrer Söhne abholen kommen. (Auch das scheint eine gezielte Fehlinformation zu sein – in die entgegengesetzte Richtung. Die Verluste der prorussischen Kräfte scheinen übrigens auch sehr hoch gewesen zu sein.)
Kiew hat keinen besonders überzeugenden track record in Sachen ehrliche Information. So gibt es z.B. die Opferzahl des gesamten Konflikts mit bisher 5000 bis 6000 an, während deutsche “Sicherheitskreise” vom Zehnfachen dieser Zahl ausgehen.
Rückblickend scheint Poroschenko, der in Minsk jede Umschließung geleugnet hatte, auf perverse Art rehabilitiert – schließlich waren geschätzte zwei Batallione ausgebrochen, nachdem er tags zuvor “den Befehl zum geordneten Rückzug” aus Debalzewo gegeben hatte. (Klar ist freilich auch, dass das fast gleiche Ergebnis mit viel weniger Blut zu haben gewesen wäre – Poroschenko hätte in Minsk nur einem Abzug zustimmen müssen).
Die prorussischen Kräfte, unter ihnen viele aus Russland stammende Kosaken, marschierten danach in den inzwischen völlig zerstörten früheren Eisenbahnknotenpunkt ein.
Der Rückzug der Soldaten Kiews verlief freilich alles andere als geordnet. Tatsächlich scheint folgendes passiert zu sein:
Die Straße in den Nordwesten, nach Swetlodarsk, wurde von den “Terroristen” gehalten, aber die Ausbrechenden konnten sie umgehen und sich querfeldein durch tiefen Boden durchschlagen. Ab Swetlodarsk nahmen sie wieder die von Kiew kontrollierte sichere Straße nach Artemivsk.
Das erläutert dieser Blog. Er hat dazu auch eine Wiki-Karte gebastelt.
Laut diesem prorussischen Blog ist der erste Teil der Expedition (Stabseinheiten, Spezialtruppen) gut durchgekommen, die restlichen Teile mit dem Pulk der Panzerfahrzeuge sollen aber arg zerschossen worden sein.
Die große Frage ist, ob das erzielte Resultat die vielen Toten wert gewesen ist. Einen guten Teil der schweren Waffen hatte man ohnedies zurücklassen müssen.
Gefahr eines rechten Putsches
Noch hat niemand einen wirklichen Überblick. Sollte sich in den kommenden Tagen aber das Bild verfestigen, dass das alles nur ein mit viel Blut bezahlter Prestigeerfolg gewesen ist und dass zuvor arge militärische Schnitzer begangen wurden, ist Poroschenko seines Amtes nicht mehr sicher. Rechte Freiwilligenverbände sprechen offen von einem Totalversagen der Generalität. Sie sollen Poroschenko ein Ultimatum gestellt haben.
Die regulären Truppen im Kriegsgebiet, behauptet die prorussische Seite, stünden vor der Meuterei. Der Liebling der so lange belogenen Soldaten sei jetzt Semen Semtschenko, der Kommandant eines Freiwilligenbatallions, der “als einziger die Wahrheit sagt”.
Ein interner Aufstand gegen den gewählten Präsidenten ist ein Szenario, das die Europäische Union – und wohl auch Moskau – vermeiden wollen – weswegen auch versucht wird, so gut wie möglich die Fiktion von einem weitgehend intakten Waffenstillstand aufrechtzuerhalten.
Sollte Poroschenko weggeputscht werden, würden nämlich radikale ukrainische Nationalisten – in der Diktion der Russen: “die Nazis” – direkt die Macht übernehmen. Eine einigermaßen friedliche Lösung wäre noch weiter in die Ferne gerückt.
Die EU würd die Hoffnung begraben müssen, ihrer Öffentlichkeit einen noch irgendwie zivil aussehenden ukrainischen Partner präsentieren zu können und die USA würden in ihrer bedingungslosen Unterstützung für Kiew nicht irre werden. Als nächster Schritt nach US-Waffenlieferungen scheinen NATO-Luftschläge angepeilt zu sein.
Nachtrag: Wie sich seit einer Woche abgezeichnet hat, haben sich die angeblichen West-Söldner in der Debalzewo-Tasche irgendwie entmaterialisiert. Entweder waren sie von Beginn weg eine Erfindung der Separatisten oder sie sind mit stillschweigender Unterstützung der Rebellen frühzeitig aus dem Kessel gesickert.
In diesem Zusammenhang scheint eine seltsame Evakuierungsaktion “für Zivilisten”, die noch vor dem Abkommen von Minsk durchgeführt wurde, eine wesentliche Rolle gespielt zu haben.
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