Mit ihrem neuesten Outlook hat die Moskauer Akademie der Wissenschaften unter Beweis gestellt, dass sie ebensogut mit Projektionen jonglieren kann wie die IEA. In welcher Tradition sich die RAS-Autoren wohl sehen? In jener sibirischer Schamanen oder gar in der von Gosplan ?
Möglich ist natürlich auch, dass Rosneft, Lukoil & Co es tatsächlich geschafft haben, abiotisches Öl in ein marktreifes Produkt zu verwandeln und nun auf selbst regenerierenden Reservoiren sitzen. An Stelle der Russen würde ich das auch nicht in alle Welt hinausposaunen. Wäre schlecht für den Preis.
Nun, die Akademie der Wissenschaften (RAS) erwartet in ihrem im Mai erschienenen Ausblick, dass die Ölproduktion (Öl + NGL) ihres Landes von 523 Millionen Tonnen im vergangenen Jahr auf 468 Millionen Tonnen im Jahr 2040 fällt. Klingt unauffällig, aber der Teufel steckt im Detail.
Man sieht diesen in der im Outlook enthaltenen folgenden Säulengrafik und er ist rot (eigene Hervorhebung/Ellipse):
Die Grafik besagt, dass aktuell pro Jahr 500 Millionen Tonnen aus bestehenden Ölfeldern extrahiert werden und dass die Erzeugung auf derselben Basis bis 2040 auf 100 Millionen Tonnen gefallen sein wird. Das ist ein Rückgang um 80 Prozent. Die Forscher nennen das “high degree of depletion of currently operational oil fields”. Ein paar ängstliche Hühner sagen “Peak Oil” dazu.
Aber fürchtet euch nicht ! Die RAS glaubt, dass der größte Teil der natürlichen Erschöpfung durch Produktion aus dem sogenannten Reservewachstum aufgefangen wird. Ungefähr die Hälfte des projektierten Outputs 2040, etwa 240 Millionen Tonnen. Der Rest soll von neuen Entdeckungen/Entwicklungen kommen (Shale, Schweröl).
“Reservewachstum” klingt für den Laien zunächst nach Hokus-Pokus, ist aber ein empirisch nachweisbares Phänomen. Es ist nicht einfach zu erklären und einzuordnen. Es bedeutet, dass die sogenannten Ultimately Recoverable Reserves (URR) dazu tendieren anzusteigen – auch wenn produziert wird (und die förderbare Menge nach Adam Riese eigentlich sinken müsste).
Das ist aber keine universelle Gegebenheit und schon gar kein Allheilmittel. Es gibt auch negatives Reservewachstum. Ein Teil dieses Wachstums hängt offenbar von der Entwicklung der Fördertechnik ab, viel ist nur eine Sache der Verbuchung. Diese muss einem Realitätstest ja nicht unbedingt standhalten. Versuchen Sie einmal, eine nationale Ölgesellschaft zu verklagen, weil diese unrealistische URR-Angaben gemacht hat! Sollte es diese Reserven geologisch tatsächlich geben, heißt das noch lange nicht, dass sie so einfach zu fördern sind wie angenommen.
Das letzte Wort haben jedenfalls nicht irgendwelche Aktionäre, nicht einmal die Regierung; und schon gar nicht “die Erbsenzähler aus dem Controlling”. Sondern die Produktions- und Verkaufsmanager. Für diese zählen nur zwei Dinge: Ist das Zeug endlich an der Erdoberfläche angelangt? Und: (Wie) kann es verkauft werden?
Wie sind die Ölfelder wirklich beinander ?
Kurz, das Reservewachstum hängt sehr stark von den Umständen ab – z.B. wann ein Ölfeld entdeckt wurde, “ob es gut behandelt worden ist” und wie sich Explorations- und Fördertechnik seither entwickelt haben.
Nun ist der wahre Zustand der Ölfelder etwas, das
- nur ein Spezialist auf Basis guter Informationen beurteilen kann und
- er ist üblicherweise eine Frage der nationalen Sicherheit, aus der ein Staatsgeheimnis gemacht wird. Das gilt sowohl für die Golfstaaten als auch für Russland.
Nun muss ich zugeben: Ich bin weder Ölingenieur, noch habe ich besondere Informationen über die westsibirischen Ölfelder. Ich weiß nur, dass diese seit wenigstens 60, 70 Jahren ausgesaugt werden – so wie die Giganten im Norden Saudiarabiens. Es könnte daher sein, dass die russischen Felder bisher mit vorsintflutlichen Methoden gemanagt worden sind und dass in ihrer Nachbarschaft tatsächlich noch “Vieles herumliegt”, was bisher noch nicht der Mühe wert erachtet wurde. In diesem Fall könnte mit einer Menge Geld und moderner Technologie wirklich einiges zu holen sein.
Die Studienautoren der RAS könnten das wissen, weil…nun, weil sie russisch sprechen und mit Leuten bekannt sind, die den Zustand der Felder und die Produktionsnotwendigkeiten kompetent beurteilen können.
Es könnte aber auch ganz anders sein. Es könnte folgender Mechanismus eingesetzt haben: “Hilfe, unsere Produktion bricht in den nächsten 25 Jahren um vier Fünftel ein! Wir können das unmöglich so hineinschreiben!”
“Na gut, dann schauen wir halt, was wir in unseren Zahlenspielen über die langfristige Entwicklung der Nachfrage sagen und das soll uns als Richtschnur für unsere Produktionsprognose 2040 dienen. Machen die anderen ja auch so.”
“Für die Differenz zwischen unserer Vorhersage und der zusammengebrochenen wirklichen Produktion brauchen wir eine möglichst gut klingende Variable, sozusagen ein schwarzes Loch, in dem wir alles versenken, was nicht ins Bild passt. Eine black box. Einen Hoffnungsträger. Warum sagen wir nicht einfach Reservewachstum dazu?”
Damit wäre das Problem zwar nicht objektiv gelöst, aus der subjektiven Sicht der Studienautoren aber sehr wohl. Sollte sich 2040 das vorhergesagte Reservewachstum nicht materialisiert haben, sind sie längst in Pension oder schon tot und das Problem liegt bei ihren Kindeskindern.
Ein solches Vorgehen wäre auch nichts speziell Russisches, sondern ist das Geschäftsmodell, mit dem ein guter Teil der heutigen langfristigen Prognosen arbeitet. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Wichtig ist primär, was die Auftraggeber hören wollen (oder womit sie wenigstens leben können).
Nun hat es in Russland in den vergangenen 20 Jahren offenbar gar kein Reservewachstum gegeben – trotz des tiefen Einbruchs in der Produktion während der Umbruchsjahre und obwohl in diesem Zeitraum sehr wohl ein gewisser Technologietransfer aus dem Westen stattgefunden hat. Siehe das hier:
Warum, bitteschön, sollte 2020 plötzlich wieder ein so starkes “reserve growth” wie in der obigen Grafik einsetzen? (Aus dieser Annahme könnte man, zugegeben, auch den gegenteiligen Schluss ziehen: Es könnte bedeuten, dass mit “Top notch-Technologie” noch viel Potenzial zu heben ist, weil so lange nichts getan wurde).
Die Limits von EOR
Allzu groß scheint die Hoffnung, die die RAS-Studienautoren in die verbesserte Ölgewinnung, EOR, setzen, nicht zu sein. Die tertiäre Ölförderung verdreifacht die Kosten und hat nur ein beschränktes Potenzial, deuten die Akademiker an:
Die Passage ist missverständlich, weil 1.) nicht klar ist, ob Prozent oder nicht vielleicht doch Prozentpunkte gemeint sind und 2.) weil unklar bleibt, ob sich die zusätzlichen 20 Millionen Tonnen aus der Baseline-Annahme plus dem großflächigen EOR-Einsatz ergeben oder nur aus der zweiten Prämisse.
Selbst wenn Letzteres der Fall sein sollte, ist die tertiäre Ölgewinnung weit davon entfernt, ein “Gamechanger” zu sein. Das Problem ist nicht 20 oder 40 Millionen, sondern 240 bzw. 340 Millionen Tonnen (inklusive “new discovered”) schwer.
Der Strohalm, den die RAS anbietet, riecht verdächtig nach einem Buchungstrick. Wie Ron Patterson in seinem Peakoilbarrel-Blog erklärt, bedeutet das, dass man die C2-Reserven, die neben den heute bestehenden Feldern liegen, in C1-Reserven verwandelt (entspricht 3P in der westlichen Klassifikation).
“Die Rede ist von Gebieten, die an die alten Felder angrenzen”, entfährt es Patterson. “Die verdammten Felder werden im wahrsten Sinn des Wortes wachsen. Glauben sie wenigstens.”
So optimistisch, wie sich die RAS Autoren in Bezug auf das Reservewachstum geben, so “pessimistisch” (aus Produzentensicht) sind sie in Bezug auf den Ölpreis. Der soll bis 2040 bei etwas über 100 Dollar pro Fass stagnieren (zu konstanten US-Dollars 2010).
Das ist ihrer Ansicht nach zu wenig, um den Ölfirmen einen Anreiz zu bieten, in die Enhanced Recovery und in Shale Oil zu investieren. Um die Investoren auf Touren zu bringen, sollten die russischen Steuerbürger/Konsumenten in die Tasche greifen (was via “tax breaks” und/oder zusätzlicher Geldentwertung/Inflation passieren müsste).
Die russische Regierung, erklärt die RAS kaum verschleiert, solle EOR und Shale steuerlich begünstigen (so wie Onkel Sam das bei sich daheim auch macht. Solang’ die Steuerzahler adäquat einspringen, kann der Preis “am freien Markt” ewig fallen. Die Ölfirmen schert das ziemlich wenig.)
Drohung mit Umorientierung nach China
Interessant ist eine auf Seite 114 offenbar kurzfristig eingeschobene Textbox über die Auswirkungen möglicher westlicher Sanktionen gegen die russische Öl- und Gaswirtschaft. Dort wird drohend eine völlige Umorientierung der russischen Energieressourcen nach China in den Raum gestellt – und zwar in nur drei bis fünf Jahren.
Diese “Drohung” wirkt fast, als müsste die RAS jemandem ein Gefallen tun. Als wäre der scheinbar Drohende selbst überzeugt, nur eine Spielzeugpistole in der Hand zu halten.
Das ist verständlich. Denn dass Russland nach einem Totalausfall der europäischen Nachfrage sein dadurch entstehendes Export/Devisenproblem in so kurzer Zeit lösen kann, ist tatsächlich ziemlich utopisch.
Und wenn die globale Versorgungssituation wirklich so gut ist wie die RAS meint; so gut, dass der Barrelpreis in den nächsten 25 Jahren real um kein bisschen steigt – dann, ja dann ist die russische Öl- und Gaswaffe tatsächlich ein Papiertiger.
Foto: DMyshkin, Wikimedia Creative Commons
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