orf.at berichtet über einen soeben beendeten erstinstanzlichen Prozess um den sg. Sturm auf das Kapitol am 6. Jänner 2021 auf eine Weise, als befände man sich selbst im Wilden Westen: Persönlichkeits- und Medienrechte vermeintlicher oder wirklicher Rechtsradikaler scheint es für die berichtenden Journos nicht zu geben (die Journaille hält sich erfahrungsgemäß nur an “Angeklagtenrechte”, wenn”feindliche Anwälte” in Leseweite sind bzw. empfindliche Strafen drohen). Nach dem Motto “Lügen ohne buchstäblich die Unwahrheit zu sagen” wird korrekt über das Urteil eines NewYorker Bezirksgerichts gegen Führungsfiguren der rechten “Proud Boys” berichtet – man lässt aber nicht erkennen, dass das Urteil a) womöglich nicht rechtskräftig ist, b) der Justizminister einmal mehr den Ausgang eines erstinstanzlichen Prozesses kommentiert und legt c) ganz allgemein eine – hoch selektive – Nonchalançe gegenüber der Unschuldsvermutung, einen Grundpfeiler des Strafrechts, an den Tag.
Konkret ging es um sie Verurteilung – inklusive Strafbemessung – von führenden Mitgliedern der “Proud Boys”,
die nach der Erzählung von US-Demokraten und demokratoiden “Leittieren im Medienrudel” eine “aufrührerische Verschwörung” begangen und wesentlich dazu beigetragen haben sollen, das US-Parlament zu stürmen
(dieser Blogger ist mit entscheidenden Teilen dieses parteipolitisch gehypten Narrativs nicht einverstanden, was hier nicht beleuchtet werden kann.).
Hier soll es bloß um das mediale bzw. medienrechtliche Handling des Falls gehen.
´Abgesehen von der
- Bezeichnung des Paragraphen, der im Zentrum des Hauptanklagepunkts steht (und der eher in das Deutschland und die Sowjetunion der 1930er passt) sowie der
- politisch und medial aufgeheizten Atmosphäre, in der der Geschworenenprozess stattfand,
- sollte es jedem rechtspolitisch einigermaßen Sensiblen zu denken geben, wenn der (faktisch) oberste Chef der Staatsanwälte vor laufender Kamera Terror-Fantasmen huldigt und noch nicht einmal rechtskräftige Urteile zum Anlass nimmt zu beteuern, das Justizministerium gedenke, das amerikanische Volk und die Demokratie zu beschützen; (nicht nur “zu denken geben” – “kalte Schauer über den Rücken jagen”).
Natürlich ist eine “Verdachtsberichterstattung” auf Basis der Anklageschrift ok
- aber selbst politisch motivierten Amokschreibern sollte einleuchten, dass in einem solchenVerfahren Staatsanwälte Partei sind, ähnlich wie Rechtsanwälte von Angeklagten (wenigstens in Österreich, vielleicht auch in den USA sind Ankläger übrigens weisungsgebunden).
Zweitens wissen selbst Taferlklassler, dass “die Justiz” in demokratischen Systemen
- mehrstufig ist,
- auf verteilten Rollen fußt und dass
- sowohl Staatsanwälte als auch Verdächtige/Verurteilte “Rechtsmittel einlegen” können.
Das ist im vorliegenden Fall anscheinend (noch) nicht geschehen – vielleicht, weil derlei begründet werden muss
und auch deswegen ein paar Tage Zeit gewährt werden.
Dennoch ist es – zumindest in Europa – üblich drauf hinzuweísen, dass die Abfolge der Prozesse noch nicht abgeschlossen ist, was manchmal in der für Laien eher kryptischen Bemerkung gipfelt, dass das Urteil “(noch) nicht rechtskräftig ist”.
Man könnte auch Umwege machen und z,B. berichten, dass auch der im Mai erstinstanzlich verurteilte “Oathkeeper” Stewart Rhodes gegen Schuldspruch und Strafausmaß berufen hat (was hierzulande freilich nicht ausreichen dürfte) oder im aktuellen Fall in etwa notieren,
was das ansonsten “politisch zuverlässige” Politico geschrieben hat
(dem man hier immerhin Fairness konzedieren kann).
All of the defense attorneys indicated they intend to appeal the verdicts, contending that prosecutors relied on novel legal theories that failed to support the charges against their clients. Norm Pattis, attorney for Biggs, called it a “miscarriage of justice.” And Steven Metcalf, attorney for Pezzola, said prosecutors’ evidence of a conspiracy amounted to ‘fairy dust’.”
Eine vergleichbare Anständigkeit scheint freilich noch nicht bis zum hiesigen Staassender vorgedrungen zu sein
- weder in die Online-Redaktion, noch in jene der ZiB 2.
In keinem der beiden Fälle wurde auch nur angedeutet,dass es sich hier um ein erstinstanzliches Urteil handelt,
was wohl nur “wider besseres Wissen” interpretiert werden kann.
Die daraus zu ziehende Schlussfolgerung bezüglich der “Unschuldsvermutung” und ihres Stellenwerts für die ORF- (und Agentur-)Journaille liegt auf der Hand.
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