Alle Welt redet vom Rechtsruck, der am vergangenen Sonntag in Wien stattgefunden haben soll. Das ist ziemlicher Käse, an dem aber unterschiedlichste Gruppen interessiert sind: journalistische Angst-Pornographen (“Nazis ante portas!”), naive Basti-Fans und sogar die FPÖ selbst. Real war nur eine leichte Akzentverschiebung in der politischen Mitte. NB zur “Veränderung des Diskurses”.
Am ehesten zu entschuldigen sind dieses Mal ausländische Journos, die die Sache vielleicht von sehr weit weg einschätzen und die sich nicht extra um ein vertieftes Verständnis der hiesigen Szene bemüht haben.
Das ist ihnen nicht vorzuwerfen, weil es im großen Bild auch nicht besonders wichtig ist.
Die haben halt keine Ahnung – aber das trifft auch auf die anderen 95 Prozent zu, die sie täglich absondern.
Etwas anderes ist es, wenn Österreicher so etwas behaupten, Leute, die dem hiesigen Klamauk schon länger folgen.
Die müssten wissen, dass sich die Besetzung unserer Opera buffa nicht wirklich geändert hat – und ihr plot auch nicht.
Die lügen entweder aus politischen Gründen bewusst, oder sie sind wild entschlossen, sich über die nächsten fünf Jahre was in den eigenen Sack zu lügen.
Wie sind nun die österreichischen Parlamentswahlen vom Sonntag faktisch (und nicht postfaktisch) ausgegangen?
- Der zentristische Parteienblock, der die Zweite Republik defaultmäßig regiert hat, ist intakt geblieben bzw. sogar gestärkt worden. Nur die Führungsrolle wurde gewechselt. Die ÖVP hat jetzt 32 Prozent und die SPÖ unverändert 27 Prozent. 2013 hatten die Schwarzen noch 24 Prozent. Ich wüsste nicht, wie man das anders als als “Akzentverschiebung in der Mitte” bezeichnen könnte.
- Die FPÖ, die man aus einem verleumderischen Interesse heraus als rechtsextrem bezeichnen könnte (was sie nicht ist), hat pro forma gewonnen, ist faktisch aber gleich stark geblieben. Sie hat das Team Stronach ordnungsgemäß übernommen, eine Partei, die diesmal nicht mehr angetreten ist und die während der vergangenen Legislaturperiode bei geschätzt 80 bis 90 Prozent aller parlamentarischen Abstimmungen mit der FPÖ votiert hat (und dessen Klubobmann schon vor der Wahl zur FPÖ zurückgekehrt ist). Das war’s. Die FPÖ hat sich sozusagen “genommen, was faktisch ohnedies schon ihr gehörte”, sonst aber nichts dazugewonnen.
- Eine echte. aber von ihrer Bedeutung her marginale Veränderung hat es bei den Grünen gegeben. Die Grünbewegung wurde vom Spaltpilz befallen, was dazu geführt hat, dass sie die kommende Legislaturperiode unterproportional im Parlament vertreten sein wird (im Vergleich zu ihrem Stimmenanteil). Dazu kommt, dass die Grünbewegung tatsächlich 50 Prozent ihrer Wähler von 2013 verloren hat. Im großen Bild macht das aber nichts aus, weil das zentristische Parteienkartell für eine Super-Majorität in Europafragen ggf. auf die NEOS zurückgreifen kann, siehe hier und hier.
Das bedeutet zusammenfassend, dass Österreich in der Tiefe von denselben Kräften wie seit 1945 gelenkt wird – egal, wer künftig mit wem koaliert. Das Wahlergebnis hat keine nennenswerte Veränderung gebracht. Die Leit-Partei hat gewechselt und auch das Leit-Tier.
Das Leit-Tier ist jetzt ein konservativ wirkender Android, äh, ich meine: synthetischer Politico.
Bild: Public Domain
Nachemerkung, 19.10.2017, 15.30 Uhr: Ich finde es, wie schon ein paar Mal gesagt, ätzend, sein politisches Koordinatensystem in der Sitzordnung der nachrevolutionären Nationalversammlung in Paris vor 220 Jahren zu verankern, verwende das Rechts-/Linksschema aber manchmal selbst, damit verstanden wird, was mir wichtig ist.
Es wäre einen eigenen Eintrag wert der Frage nachzugehen, was z.B. an Erwerbsfreiheit, der Zielvorstellung, wirtschaftlich ohne Vater Staat über die Runden zu kommen oder dem Ärger dauernd bespitzelt zu werden rechts ist.
Aber das ist eine andere Geschichte.
Soweit hier lechts und rinks übernommen werden, handelt es sich um einen Fall opportunistischer Sprachpragmatik.
Gewichtiger ist der mir entgegengehaltene Einwand, dass Worte (“Diskurse”) sehr wohl von Bedeutung sind und dass sich diese grundlegend ändern könnten ohne dass sich die “Verortung” der Sprecher ändert.
Und dass zunächst die Diskurse rechtsgeruckelt seien, was auch entscheidend sei.
Der Einwand ist gut.
Aber dabei hat es sich von Anfang an um ein gefaktes, bzw. von den Adressaten nur gefühltes Phänomen gehandelt.
Unser synthetischer Sebastian hat mit Hilfe der Journos lediglich den Eindruck erweckt, er habe die herrschende Rede zu den Themen Migration, Integration und Grenzen verändert.
Das hat er in Wahrheit nicht getan und die Wähler werden das schon bald herausfinden können.
Oder glaubt jemand im Ernst, der Mann könne laufend zwischen Außenminister-Kollegen und EU-Kommissaren herumwuseln und dabei auch noch fotografiert werden, wenn er wirklich die Absicht hätte “die Immigration zu unterbinden und die Grenzen zu schützen”?
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