Eine Staatswerdung Neurusslands würde eine gewisse Stabilisierung des Konflikts ermöglichen. Sie könnte sich auf ein geheimes Einverständnis durch Berlin und/oder Paris stützen. Ob die USA, ihre osteuropäischen Juniorpartner und die ukrainischen Nationalisten eine solche “Lösung” akzeptieren würden, scheint aber fraglich.
Dies ist ein Posting, das im Interesse der Schnelligkeit auf eine umfangreiche Dokumentation verzichtet. Es kann sich auf keine offiziellen Aussagen der großen Konfliktparteien berufen und ist spekulativ angelegt. Es soll aber die Form einer konkreteren Vorhersage annehmen, die ich ansonsten eher zu vermeiden versuche. Es ist der Schluss, der sich aus den militärischen und politischen Ereignissen der letzten paar Tage ziehen lässt.
Die Ukraine wird ihre “territoriale Integrität” verlieren. Der Krieg in den östlichen Teilen läuft die Abspaltung von vier östlichen/südlichen Oblasts aus dem Staatsverband der Ukraine hinaus: Lugansk, Donezk, Saporischschja und Cherson. Vorläufiges Endergebnis könnte ein formell eigenständiger, aber Russland eng verbundener Staat sein. Das neue Neurussland würde folgende Charakteristiken aufweisen:
- Es ist ein ethnisch russischer Verband, der früher oder später der eurasischen Freihandelszone beitreten und einen Militärpakt mit Moskau schließen wird. Er wird von den westlichen Ländern nicht anerkannt werden, sehr wohl aber von den BRICS-Staaten (und anderen Ländern der Dritten Welt). Dies ist die Voraussetzung, um Gelder für den Wiederaufbau von der neuen BRICS-Entwicklungsbank erhalten zu können.
- Das Land wird große Summen brauchen, weil Kiew in seinem Feldzug um die Erhaltung der politischen Einheit auf unverhältnismäßige Weise schwere Waffen eingesetzt und große materielle Schäden angerichtet hat.
- Wirtschaftlich gründet sich Neurussland auf der Schwerindustrie des Donbass, die bei einer Westintegration wahrscheinlich in kürzester Zeit liquidiert würde – die aber innerhalb des eurasischen Blocks gangbar scheint. Neurussland wird trotzdem auf massive Quersubventionen aus Moskau angewiesen sein, die vergleichbar mit der Hilfe sind, die die Sowjetunion seinen osteuropäischen Satelliten angedeihen ließ.
- Der Gegenwert, den Moskau davon hat, ist ein militärstrategischer: Es sichert über den neuen Staat den Landzugang seines Militärs zur Krim und die Kontrolle über das Asowsche Meer bestmöglich ab.
Eine solche “Lösung” wäre freilich alles andere als optimal für die Russen. Die absehbare Einbindung der Rumpf-Ukraine in EU und NATO wäre eine nicht leicht umkehrbare Entwicklung. Vor die Wahl gestellt, hätte Moskau noch vor ein paar Monaten wohl die Austrizifierung/Finnlandisierung des gesamten Landes (im Sinne von vor 1989) bevorzugt: also strikte militärische Neutralität bei politischer Westorientierung. Auch ein späterer Beitritt der Neurussen zur Föderation könnte die strategischen Nachteile des Westschwenks der Rumpfukraine bei weitem nicht kompensieren.
Der erste Grund, warum derzeit vieles für eine Abspaltung spricht, ist ein militärischer: Die vor einer Woche begonnene Offensive der ukrainischen Armee hat nicht den Zusammenbruch der Rebellenhochburgen gebracht. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Wie von Zauberhand enstand eine Gegenoffensive der Neurussen.
Dies allerdings im Süden des Bürgerkriegsgebiets, nicht im Westen und Norden. Im Nebel der Propaganda sind zwar nur schemenhafte Umrisse zu sehen. Was man erkennen kann, ist aber Folgendes: die Rebellen marschieren nicht auf Dnipropetrowsk oder gar Charkiw, sondern in Richtung Aswosche See. Wenn ihre Operationen militärisch gelingen, wird sich ein von Nordost bis Südwest verlaufender Landstreifen zeigen, der mit den heutigen Oblasts Lugansk, Donezk, Saporischschja und Cherson deckungsgleich sein könnte.
Die genannten großen ukrainischen Städte (oder auch Odessa) scheinen außerhalb der Reichweite der Rebellen zu liegen – solange Russland militärisch nicht offiziell interveniert. Dass die Offensive der Rebellen gelingt, ist freilich alles andere als sicher. Die ukrainischen Streitkräfte sind um ein Vielfaches überlegen (Kämpfer, Waffen) und sie wehren sich heftig. Wenn es ihnen gelingt, den Vorstoß der Neurussen gegen Süden abzuwehren, ist die Abspaltungs-Option hinfällig.
Der zweite Grund für meine Vermutung ist dieses Video und die darin enthaltenen Aussagen. Es zeigt eine vor drei Tagen abgehaltene Pressekonferenz von Witalij Sachartschenko, des Regierungschefs der selbsternannten Republik Donezk. Mit dabei ist der “Verteidigungsminister”. Der Vineyardsaker nennt diese Pressekonferenz eine “watershed pressconference”. Aussagen:
Die beiden erklären, dass sich die früheren Milizen nun als reguläre Armee verstünden und dass diese nichts anderes tue als “unser Land zu verteidigen”. Man wolle “selbstständig leben”, nicht mehr.
“Eine Föderalisierung ist heute nicht mehr möglich (…) Vor drei Monaten haben wir um Föderalisierung gebeten, dann um die Erlaubnis, ein Referendum abzuhalten.”
“Diese Zeit ist vorüber, jetzt wollen wir unabhängig leben. Die ukrainischen Behörden nutzen Polizeimethoden, um uns zu unterwerfen: sie nehmen uns fest, schneiden uns ab, und unternehmen Anti-Terror-Operationen gegen uns (…) Jetzt ist schon so viel Blut vergossen, und so viele Menschen sind für die Freiheit gestorben. Wie können wir da von Föderalisierung reden?”
Offiziell hält Russland noch an den Forderungen des Genfer Abkommens von vor vier Monaten fest, aber der Schwenk kann schnell erfolgen. Dass Sachartschenko seine Aussagen ohne das geheime Einverständnis des großen Häuptlings in Moskau getroffen hat, ist unwahrscheinlich.
Putin scheint de facto das Verlangen nach der Föderalisierung der Ukraine aufgegeben zu haben und die Hilfen für die Neurussen aufgestockt zu haben. Aber er scheint nicht gewillt, sich zu in einer offenen, großen Militärintervention gegen die Gesamtukraine verführen zu lassen (Dass er seine Haltung zu Ungunsten der Separatisten ändert, liegt im Bereich des Möglichen.)
Um Putin von dieser Linie abzubringen, müsste ihm etwas Verlockenderes als die Vorteile durch die Staatswerdung der vier südöstlichen Oblaste angeboten werden. Oder Russland müsste tatsächlich mit ökonomischen oder militärischen Mitteln auf die Knie gewzungen werden.
Die Möglichkeit eines solchen Ausgangs besteht sehr wohl. Aber auch, dass das Kiewer Regime unter der Last seiner ungelösten wirtschaftlichen Probleme zusammenkracht.
Foto: kremlin.ru, Wikimedia Commons
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