Der französische Geograph Christophe Guilluy, der Experte für die Proteste der Gelbwesten sein soll, erklärt das meuternde periphere Frankreich zur “arbeitenden Klasse” – ebenso wie die aus Nordafrika stammenden Jugendlichen in den Banlieues. Die classes populaires forderten eine in städtischen “Zitadellen” verschanzte Multikulti-Oberschicht heraus – durch das Bestehen auf die eigene Kultur, egal ob autochthon oder maghrebinisch-moslemisch. Eine Mischung aus radical chic und substanziellen Einsichten, zu denen eine steril gewordene akademische Linke nicht fähig zu sein scheint.
Das (für das internationale Publikum) jüngste Werk Guilluys ist das 2019 erschienene Twilight of the Elites, das 2016 original als Crépuscule de La France d’en haut heraus gekommen ist.
Um dieses Pamphlet gebührend zu würdigen, empfiehlt sich auch die (auszugsweise) Lektüre von La France périphérique (2014) und des im Herbst 2018 herausgekommenen No Society, das – entgegen dem ersten Eindruck – ein französischer Text ist.
Auch wenn sich einzelne Formulierungen verändert haben und neue Details Beachtung finden – die drei Texte bilden ein ideelles Kontinuum.
Es handelt sich – um es kurz zu sagen – um eine nicht-orthodoxe marxistische Klassenanalyse, eine, die gar nicht des konkreten Handelns des mouvement de gilets jaunes bedurfte um zu erkennen, dass sich hier politische Explosionen vorbereiten.
Die Gelbwesten selbst gibt es erst seit 2018.
Die scheinbare Hellsichtigkeit des Autors bedeutet freilich noch nicht, dass eine Analyse richtig wäre – sie “framt” die Entwicklungen aber, nämlich als aktuelle Station des weltgeschichtlichen Revolutions-Zugs.
Abenddämmerung Oberschichten-Frankreichs
Wie ist Twilight nun aufgebaut, was besagt der Text?
Das erste Kapitel widmet sich den neuen metropolitanen citadelles (einem Ankerbegriff, der die heutigen Ballungszentren geschickt mit der Bastille, dem Symbol für das Ancien Régime verknüpft);
das zweite thematisiert die amerikanisierte Gesellschaft, und das dritte das Management der öffentlichen Meinung.
Der vierte Abschnitt schließlich, die Fahnenflucht der Arbeiterklasse, ist das Zentrum von Guilluys Argumentation.
Seine “Desertation” zeigt sich im Ende der traditionellen Bindungen an die Volksparteien, zunehmender Wahlenthaltung und dem Votieren für den Front National.
Ein “Souveränismus von unten” entstehe.
Entgegen allen Multikulti-Träumen lebten autochthone Franzosen und Arabischstämmige zunehmend separiert und nebeneinander her.
Diese Gruppen würden sich auf ihre kulturellen oder religiösen Wurzeln besinnen, was nach Meinung Guilluys letztlich harmlos ist (eigene Übersetzung, wie alle folgenden Zitate):
Unabhhängig von ihrer ethnischen Herkunft sind die Mitglieder der Arbeiterklasse entschlossen, jene alten und unschuldigen Gefühle zu verteidigen, die die dominierenden Klassen als rassistisch und faschistisch verurteilen.” (Twilight, 118)
Das Kennzeichen der ethnisch und kulturell diversen Unterschichten sei deren – unfreiwillige - Immobilität bzw. deren Hang zur Sesshaftigkeit. Dieser stehe im Gegensatz zu Ideologie und Lebensführung des städtischen France d’en haut.
Der immobile Nationalismus der indigenen Weißen sei politisch gar nicht so böse, erklärt der klassenkämpferische Geograph Jugendlichen algerischer Herkunft, wie er in France périphérique selbst erzählt:
“Was würde passieren, wenn es in einem Kabylen-Dorf (bei einem Berberstamm) plötzlich zu einer massiven Einwanderung von Chinesen käme?”
Worauf ihm geantwortet wird, dass derlei unter algerischen Berbern gar nicht vorstellbar sei.
Twilight ist wenig mehr als eine kondensierte Aktualisierung von France périphérique, das dem heute 55-Jährigen 2014 den Durchbruch verschaffte.
Im gerade erst publizierten No Society schließlich rollt Guilluy, was er bis dahin über Frankreich geschrieben hat, über die westliche Welt aus.
Die globalistischen Eliten verweigerten den Volksklassen deren Kultur, empört er sich – was umso skandalöser sei, als die Oberen selbst nicht im Traum daran dächten, ihr eigenes Wertesystem zur Disposition zu stellen. Zwar setzten die herrschenden Klassen überall auf der Welt auf Ungleichheit, aber
nur in Europa wird dieser Prozess von einer derartigen kulturellen Auslöschung begleitet.”
Die an den Universitäten verwurzelte globalistische Linke hört derlei äußerst ungern – ebensowenig wie sie goutiert, wenn die Supranationalität für gescheitert erklärt und eine souveränistische Neugründung der EU verlangt wird – Guilluy sei unwissenschaftlich und verwende Migrations-Zahlen, die die Leute beunruhigten, heißt es dann beispielsweise.
Der Mann kümmert sich nicht drum und macht sich einen Spaß draus, im linken Establishment herum zu stänkern und auch den dort verbreiteten ökologistischen Diskurs scheint er nicht ernst zu nehmen (der carbon footprint gerät ihm unversehens zur Ressourcenknappheit).
In gewisser Weise propagiert Guilluy eine Umkehrung des revolutionären Internationalismus Leo Trotzkis – nämlich einen revolutionären Nationalismus (andere würden sagen: einen nationalen Sozialismus).
Das bedeutet nicht, dass der Autor weniger radikal (und wohl auch gewaltbereit) wäre als die alte internationalistische Linke.
Im Nachwort zu No Society kehrt Guilluy den Gemeinplatz vom vaterlandslosen Gesellen ironisch um, mit dem Sozialisten historisch oft bedacht wurden. Er schreibt mit Blick auf die städtischen Multikulti-Eliten:
Sie ziehen es vor, unter sich und ihresgleichen zu leben. Sie weigern sich zu integrieren (…) Sie leugnen die Existenz einer gemeinsamen westlichen Geschichte … und sprechen nicht einmal mehr die gemeinsame Sprache (…) Über Jahrzehnte haben diese Leute, diese Asozialen, diese Reichen. diese oberen Klassen die westlichen Länder ins Chaos einer relativen Gesellschaft gestürzt, indem sie das Gemeinwohl aufgegeben haben. Es ist Zeit, sich wieder in die natiionale Gemeinschaft zu integrieren, in die wirkliche Bewegung der Gesellschaft, die der Volksklassen.
Aidons-les à réintégrer la communauté nationale !”
Das freilich ist kein flapsiger Sponti-Spruch, sondern eine furchterregende Drohung. Die in die Millionen gehenden Opfer des Russischen Bürgerkriegs und des Nationalsozialismus könnten das bezeugen.
Christophe Guilluy, Twilight of the Elites. Prosperity, the Periphery, and the Future of France. 2019
Christophe Guilluy, La France périphérique : Comment on a sacrifié les classes populaires. 2014
Christophe Guilluy, No Society – La Fin de la Classe moyenne Occidentale, 2018
Comments are closed, but trackbacks and pingbacks are open.