Die Medien zeichnen die griechische Volksabstimmung am Sonntag als Weichenstellung, bei der sich das griechische Volk “für oder gegen Europa” entscheidet. Das trifft nicht zu. Was am Sonntag und nächste Woche ansteht, ist ein multidimensionaler Extrem-Zock, in dem die scheinbaren Widersacher, die “zentristischen Parteien in der EU”, die Obama-Administration sowie die links-rechte griechische Koalition im gleichen Team spielen. Ziel ist es, Griechenland einen Schuldenschnitt zu verschaffen, das Land aber im Euro und die Regierungen Merkel und Tsipras im Amt zu halten.
Ihre Gegner sind die radikalen Gruppierungen des jeweils eigenen Lagers: die deutschen Hartgeld-Freunde, die US-amerikanischen Neocons sowie die sozialistischen Unabhängigkeitsbefürworter in Hellas selbst.
Indizien, dass dieses Spiel gespielt wird, gibt es zuhauf – nur will sie niemand wahr haben. Niemand will glauben, dass sich “Europa” auf eine solchen Gamblerei einlassen könnte (Tsipras & Varoufakis wird derlei zugetraut). Das zentrale Element des Pokers besteht darin, die jeweils eigenen Parteigänger über das Rational des üblen Spiels zu täuschen.
Merkel muss daheim (zunächst) so tun, als würde/könnte sie die schon verlorenen deutschen Kredite an Griechenland gegen die Radikal-Sozis in Athen verteidigen. Das sichert die Loyalität ihres Fußvolks in der deutschen Öffentlichkeit und unter den CDU/CSU-Abgeordneten des Bundestags. Das ist deshalb speziell wichtig, weil sie und ihr Finanzminister es persönlich waren, die die Deutschen in die Kreditorenposition hineingeritten haben. Auch die griechischen Bussi-Bussi-Freunde der Merkel um Antonis Samaras, die für ein “Ja” mobilisieren, müssen über die Klinge springen.
Auf der anderen Seite stehen Tsipras, Varoufakis und deren Koalitionspartner von der rechtspopulistischen ANEL. Die müssen bei ihrer Basis den Eindruck erwecken, dass sich (wahlweise) der griechische Sozialstaat/das griechische Volk in einem Abwehrkampf gegen den Goliath, das kapitalistische & imperialistische Europa befinden.Das unmittelbare Ziel dieser Erzählung ist, die Volksabstimmung am Sonntag zu gewinnen, die ja eigentlich über einen Verhandlungsvorschlag abgehalten wird, der gar nicht mehr am Tisch liegt.
Der Sieg des oxi darf aber nicht zu hoch ausfallen. Die Schwierigkeit ist, dass der master narrative über die Befreiung von der Unterdrückung durch Fremde nicht übermächtig wird und die beschworenen sozialistischen und nationalistischen Instinkte beherrscht werden können. Gelingt das nicht, besteht keine Möglichkeit zum Kompromiss mit der “EU”, der dem geheimen Spielplan zufolge ja die ganze Zeit angepeilt wurde.
Dass ein solches Ergebnis angestrebt ist, wird von beiden Seiten ohnedies immer wieder offen auf den Tisch gelegt - nur werden diese Signale in der Öffentlichkeit als rein taktische Manöver gelesen, die darauf abzielen, die jeweilige Position gegen den (vermeintlichen) Gegner zu stärken. Die Medien zeichnen diesen scheinbaren Streit mit Hingabe nach und solche Auseinandersetzung ist für das Gelingen des Plans auch notwendig.
Es gibt aber immer wieder kurz aufblitzende Einblicke in die eigentliche Mechanik des Gambits. Beispielsweise in folgendem am Freitag Abend veröffentlichten Interview mit Yanis Varoufakis. Spielpraktiker Varoufakis sagt in diesem Interview mit Channel Four, dass die Europäer seit der Ankündigung des griechischen Referendums gleich mehrere interessante Angebote vorgelegt hätten.
Wenigstens eines von diesen könne die griechische Regierung “auf der strichlierten Linie sofort unterzeichnen”. Voraussetzung dafür sei aber ein Nein bei der Abstimmung am Sonntag – erst damit würde seine Regierung vom Wahlvolk ermächtigt, einen solchen Deal abzuschließen (die Formulierung der Fragestellung für das Referendum weist übrigens genau in diese Richtung: Sie ist dergestalt, dass die Regierung ex negativo bevollmächtigt wird, einen Deal mit Schuldenschnitt abzuschließen.)
Das heißt, dass das zentristische Europa und Athen die ganze Zeit in Kontakt waren und verhandelt haben. Es heißt, dass das Referendum Teil des Basiszenarios beider Seiten ist und dass das mediale Bild von den Geschehnissen in Griechenland völlig falsch ist. Wir befinden uns nicht vor Staatspleite und Grexit, sondern am Vorabend einer “überraschenden Wende”, die in ein (virtuelles) happy end mündet.
Alles wird gut, wird es nächste Woche erleichtert heißen: Athen bekommt Schuldenschnitt und drittes Bailout-Paket, die EZB dreht den Geldhahn wieder auf, der Bankrott wird abgesagt und Griechenland bleibt im Euro. Tsipras & Varoufakis werden einen großen Sieg, einen vollen Verhandlungserfolg errungen haben und Merkel wird daheim argumentieren können, dass sie auf einen Schuldenschnitt eingehen musste, weil die linken Wahnsinnigen in Athen sonst die Eurozone in die Luft gesprengt hätten. Und das eigentlich malkontente Merkelsche Fußvolk wird nach all der Dramatik so erleichtert sein, dass es Heil Mutti ! und Heil Rollstuhlfahrer ! schreit.
Die deutsche Regierung hat eine mächtige Koalition auf ihrer Seite. Ein Bestandteil dieser Koalition sind die europäischen Sozialdemokraten, die sowieso schon die ganze Zeit voll auf der Linie der griechischen Regierung waren – auf einer ideologischen, wirtschaftspolitischen Basis (“Gegen das Kaputtsparen” = “Weiteres deficit spending auf Pump”.) Auf Seiten des Pokerteams Berlin & Athen steht auch US-Präsident Obama, der Griechenland in der EU halten will, der aber eine andere, gemäßigtere außenpolitische Linie vertritt als die verrückten neokonservativen Kriegstreiber, die die Ukraine-Politik bestimmen.
Obama kann mit einer Regierung Tsipras gut leben, solang die Griechen in der EU bleiben und die restlichen Europäer für sie zahlen. Ihm sind Themen wie die Streckenführung der künftigen russischen Erdgaspipeline kein besonderes Anliegen. Vielleicht kann Tsipras ja dazu bewogen werden, die Strecke über Bulgarien zu führen und das würde auch die Fraktion der antirussischen Falken ruhig stellen.
Die Eurozone wäre wieder einmal gerettet, ein großer Triumph auch für alle zentristischen Euroretter. Merkel wird sich einbilden können, weitere Forderungen nach einem Schuldenerlass abblocken zu lkönnen – hat das Pokerteam doch den italienischen Regierungschef Renzi und dessen spanisches Pendant Mariano Rajoy in der Tasche. Solang die für ihre Nationen nicht fordern, was die Griechen auch bekommen haben, ist alles okay.
Das ganze ist freilich ein risikobehafteter Extrem-Zock. Es gibt zahlreiche Fallstricke. Beispielsweise, dass die Griechen von ihrer revolutionären/nationlistischen Befreiungsstimmung mitgerissen werden. Beispielsweise, dass ein paar helle deutsche Parlamentarier durchschauen, dass sie von Mutti an der Nase herumgeführt werden. Oder beispielsweise, dass die EZB den Geldhahn nicht mehr aufdreht wie die Politik von ihr erwartet.
Aber das sind alles Risiken, die nach Meinung des Pokerteams Merkel & Tsipras eingegangen werden müssen, weil das Schadenspotenzial dieses Events so hoch ist. “Fällt der Euro, fällt Europa.”
Varoufakis in Berlin:
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