Der schwedische Historiker Leos Müller hat den Fixstern am Himmel der Zweiten Österreichischen Republik, eines Binnenlandes, über 500 Jahre zurückverfolgt – und siehe da: Die Neutralität entpuppt sich als Kind des Zeitalters der Entdeckungen, des Seehandels und des Kolonialismus – als etwas Europäisches, aber zugleich global Maritimes. Mit dem Konzept konnten kleine oder zweitrangige Seefahrer-Nationen die permanenten Kriege der großen Mächte umschiffen.
Müller nennt zwei Voraussetzungen für die Entstehung der neuzeitlichen europäischen Neutralität – einmal den Begriff gewissermaßen herrenloser Internationaler Gewässer, der Hohen See, der überhaupt erst nach den spanischen und portugiesischen Entdeckungsfahrten in Atlantik und Pazifik entstehen konnte.
Sowie zweitens, die “Souveränität des Westfälischen Staatensystem”, das, ungeachtet oft extrem ungleicher Kräfte, von mehreren selbstständigen Akteuren ausging, die grundätzlich gleich legitim waren.
In dieser Arena haben sich die großen Seemächte – Spanien, England und Frankreich – Jahrzehnte und Jahrhunderte bekämpft;
militärisch und wirtschaftlich -, während “die Kleinen” versuchten, sich aus den Wechselfällen des Kriegs herauszuhalten und dabei gute (manchmal unverschämt gute) Handelsgeschäfte machten.
Auch das war freilich ziemlich riskant.
Die kriegführenden Parteien und ihre staatlich lizensierten Piraten (“Kaperbriefe”, “privateers”) unternahmen alles, um den Handel mit dem Feind zu unterbinden und machten dabei natürlich nicht vor “eigentlich nicht in den Krieg involvierten” Schiffen halt.
Die maritime Neutralität entwickelte sich dennoch zu einem Erfolgsmodell – ganz im Gegensatz zu ihrer Zwillingsschwester an Land.
War ein Staat nicht imstande, sein Gebiet zu verteidigen oder wenigstens einen “hohen militärischen Eintrittspreis” verlangen zu können, wurde seine Neutralität von (vermeintlich) Stärkeren schlicht nicht respektiert – nicht im 30-jährigen Krieg und nicht zur Zeit Napoleons (und auch später nicht, im Ersten Weltkrieg).
Die Missachtung der territorialen Neutralität änderte sich nach dem Wiener Kongress für 100 Jahre.
In diesem Säkulum garantierten die Großen Mächte die Neutralität etwa des neu geschaffenen Belgien und der Schweiz.
Neutralität wurde zu einem “Schlüsselelement” des Staatensystems, vermeint Müller.
Im “goldenen 19. Jahrhundert” waren nicht nur Skandinavier, Niederländer (Belgier), Schweizer und Portugiesen neutral, sondern auch der heutige Welthegemon, die USA mitsamt den eben entstandenen lateinamerikanischen Staaten.
Das Odium von Geschäftemacher- und Kriegsgewinnlerei, das den Unparteiischen lange Zeit angehaftet hatte, schwand gegen Ende des 19. Jahrhunderts (eigene Hervorhebung):
As an all-purpose concept, neutrality became a part of the toolkit of nineteenth-century internationalism, and of different peace movements, disarmament movements, movements addressing social progress, and the like.”
Neutrale waren “in”, auch als Veranstaltungsorte für internationale Kongresse gegen den Krieg bzw. für eine zumindest regelbasierte Kriegsführung (Den Haag).
1914 begann das “Undenkbare”, ein Krieg – länger und totaler als man sich ihn hatte vorstellen können (wollen).
Der Erste Weltkrieg zeigte anhand von Belgien, dass sich Neutrale ihrer territorialen Integrität mitnichten sicher sein konnten.
Er brachte eine grundsätzliche außenpolitische Umorientierung der USA, weg von der isolationistischen Neutralität, die man seit der Unabhängigkeit von Britannien verfolgt hatte, hin zum “liberalen Interventionismus” Woodrow Wilsons.
Nach dem Ende der Blutorgie entstand der Völkerbund, der (theoretisch) ein System der kollektiven Sicherheit war und dessen Anforderungen sich eigentlich mit den Verpflichtungen neutraler Staaten schlugen.
Dieses System erwies sich freilich schon bald als Papiertiger, noch vor dem Hitlerschen Grenzrevisionismus (“Mandschurei-Krise”, Abbessinienkrieg).
Die militärstrategisch motivierte deutsche Okkupation Neutraler ließ Dänen, Niederländer und Norweger nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Neutralität aufgeben, während Schweden, Finnland und die Schweiz sie beibehielten.
Wegen der Konfrontation der Blöcke stieß auch das kleine Österreich dazu, das Kapitalismus und wirtschaftliche Westorientierung nie ernsthaft in Frage gestellt hatte.
Bezeichnenderweise war seine prekäre und doch irgendwie privilegierte Position an der Grenze Vorausetzung dafür, dass die Zweite Republik eine limitierte, aber unzweifelhaft existente staatliche Souveränität entwickeln konnte (sagt dieser Blogger).
Die Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts brachten einen gewissermaßen modischen Aufschwung “aktivistischer Neutralität” unter sozialdemokratischem Vorzeichen und jenen von Entkolonialisierung und Bündnisfreiheit (“Neutral and Non-Alligned – N + N”).
Seit den 1990ern ist zumindest am alten Kontinent wieder alles anders, u.a. weil das “Europäische Einigungsprojekt” alte Gewissheiten in Frage stellte und – wie es scheint – die Problemlage jeweils im Abstand von ein paar Jahren neu formuliert wurde.
Comments are closed, but trackbacks and pingbacks are open.