Ein Florentiner Chemiker hat ein Sequel zu seinem vor zwei Jahren herausgebrachten Buch über die Seneca-Klippe geschrieben, in dem er argumentiert, dass moderne Systemwissenschaft und antiker Stoizismus in der Berücksichtigung von Zusammenbrüchen eines Sinnes seien – collapse is not a bug, but a feature. Dabei betätigt sich Ugo Bardi halb als wissenschaftlicher Geist und zur anderen Hälfte als Jäger gutmenschlicher Meme und das Resultat ist ein Verbund, der kaum noch rezykliert werden kann.
Das ist schade, weil große Teile des “Ausgangsmaterials” von Bardis Kollaps-Modell durchaus durch naturwissenschaftliche Forschung oder empirische Daten gedeckt sind
- beispielsweise beim Bruch von Festkörpern, der sich auf molekularer Ebene abspielt (wohl ein ureigenes Arbeitsfeld von solchen professores). In der wirklichen Welt taugt aber auch der Einsturz der Genueser Morandi-Brücke als Exempel.
Freilich droht plötzliches Verhängnis insbesonders organischen Systemen bis hin zu den nordatlantischen Dorsch-Beständen.
All das läuft auf die zeitgenössischen Theorien über den rapiden Zusammenbruch komplexer Systeme hinaus und in allen Beispielfällen bis auf einen ist Ugos Moral von der Geschicht’, dass Linear-Denker, Extrapolierer & Co. systematisch falsch liegen.
Und erst die implizite und explizite Ahnengalerie des Buchs!
Charles Hall, “Erfinder” der biophysikalischen Ökonomik, führt die Danksagungen am Anfang an, gefolgt u.a. von Dennis Meadows (“Limits of Growth”) und Colin Campbell (“Peak Oil”). Warum Bardi William Catton mit keinem Wort erwähnt, wo er sich doch wesentliche Gedankenfiguren Cattons ausleiht (“Overshoot”, “Bottleneck”), wird nicht deutlich.
Konspirationisten & Experten
Im Gegensatz zu diversen Verschwörungstheorien hält Bardi jedenfalls die Flamme der wissenschaftlichen Methode hoch, wobei seine Grenzziehung manchmal ziemlich willkürlich bzw. durch den Gelehrten-Konsens einer unsichtbaren Gruppe “echter”, aber missachteter Experten bestimmt zu sein scheint.
Vielleicht sollten die (vorgeblich) einflusslosen “echten Experten” besser die Gewänder von Pythia, der Priesterin des Orakels von Delphi anziehen – dann würde man ihnen noch eher zuhören, meint Bardi einmal sinngemäß.
Seine Outgroup sind nicht-rationale Konspirationisten. Diese werden bei ihm im Regelfall ironisiert, wobei hoch selektiv vorgegangen wird.
Eine spöttische Erwähnung ist Bardi beispielsweise die Ansicht wert, dass sich heutige Klimatologen & tutti quanti bei ihren Forschungsvorhaben und -ergebnissen an den Wünschen von politischen und szientifischen Geldverteilern orientierten.
Some people state that the whole story is a hoax created by a cabal of evil scientists who wanted more money for themselves in the form of research grants, was
at best, a highly unlikely assumption”
sei.
Nun erläutert Bardi überzeugend, dass Verschwörungstheorien nicht falsifizierbar und daher auszuscheiden seien, weswegen er auch keinen direkten Versuch der Widerlegung unternimmt
- aber eine gewisse evenhandedness hätte man sich von ihm doch erwartet, vor allem, wenn das Gegen- bzw. Ergänzungsbeispiel so klar auf der Hand liegt wie hier.
Es ist das gutmenschliche Mem von den von der Öl-Lobby gekauften szientifischen Klima-Leugnern. Wenn das nicht auch eine “Verschwörungstheorie” ist ! Und doch ist dieses Kampf-Konzept dem Verfasser von Before the Collapse keine lustige Zeile wert.
Auch hier handelt es sich um zweierlei Maß wie in Bardis Kritik an der Linear-Denke, die für alles Gültigkeit zu haben scheint, nur nicht für die CO2-Konzentration in der Atmosphäre und deren vermeintliche Folgen.
Modellierer & Stoiker
Jedenfalls verteidigt der Florentiner den Einsatz von Modellen zur Erkenntnis (und “Beeinflussung”) von physikalischer Wirklichkeit,
was einerseits natürlich auf die Klima-Modelle gemünzt ist, wobei andererseits aber auch der Molekular-Chemiker heraus zu hören ist, der nicht sichtbare Realität erfassen und vermitteln will, nicht zuletzt angehenden Ingenieuren.
Diese so notwendigen Hilfskonstrukte, proklamiert Bardi, erforderten zwar auch Expertenwissen, es müsse sich aber um wirkliche Fachleute handeln (“best scientists in climate and ecosystem matters”):
Untadelige Experten eben wie die fitter unserer gängigen CO2-warmistischen Klima-Modelle, denen heutzutag’ nicht mehr geglaubt werde (bis auf die Zeichungsberechtigten für 180 Staaten der Welt ).
Weil er ein eigentümlicher Mensch ist oder weil seine Bewunderer sich humanistischen Bildungsbürgertums nicht ganz entschlagen wollen, kleidet sich Bardi in der Tracht eines stoischen Literaten-Philosophen des 1. Jahrhunderts, nach dem er auch die Klippe benennt, über die die heutige Menschheit abzustürzen droht.
Natürlich hat nicht nur Seneca diesen Abfall beschrieben bzw. gedacht, sondern Tausende vor und nach ihm - aber die Benamsung z.B. mit Hemingway-Cliff würde sich definitiv weniger gut machen als jene über S. (Übrigens kriegt auch der 700 Jahre davor lebende König Krösus ein eigenes Syndrom ab).
Was, wohlgemerkt, alles nicht bedeuten soll, dass es keine Klippen, Disruptionen und Abgründe gäbe.
Ugo Bardi, Before the Collapse. A Guide to the Other Side of Growth.2020
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