Die Anzahl der Smartphones, die in Gebrauch sind, nähert sich rasant der weltweiten Bevölkerungsanzahl an und mit ihnen und den “Social Media” haben Kulturtechniken Einzug gehalten, die beispiellose Services ermöglichen, die aber auch das Potenzial haben, in Rekordzeit die Spezies homo sapiens sapiens zum Schlechteren zu verändern, warnen Imran Rashid und Sören Kenner in Offline.
Einer der Autoren ist Allgemeinmediziner und der andere Online-Marketer – und beide verfügen durch ihre Berufspraxis über Vorverständnis von und Einblicke in die Problematik.
Zusätzlich wollen sie sich durch Hunderte Papiere aus Aufmerksamkeitsökonomie, Hirnforschung sowie Neuropsychologie und Verhaltenswissenschaften gegraben haben.
Rashid und Kenner kommen dabei zum Schluss, dass (eigene Übersetzung, wie unten)
Smartphones und Social Media in grundlegende Funktionen der menschlichen Kognition eingreifen und dass deren unkontrollierte und hauptsächlich impulsive Nutzung zu Problemen wie Stress, Schlafstörungen sowie mangelnde Zielgerichtetheit und Konzentration führen kann (…) und zu welchen mit dem Herstellen von (emotionellen) Beziehungen und dem Sozialisieren und dass (Smartphone und Social Media) auf subtile Weise die Wahrnehmung ihrer Außenwelt beeinflussen (cognitive bias).” (187)
Ausgangspunkt der Argumentationskette ist der zwischen den sozialen Medien stattfindende Konkurrenzkampf um die Aufmerksamkeit der Nutzer, die den Anzeigenkunden von Facebook & Co. sozusagen mundgerecht serviert werden können – auf Basis riesiger Datenmengen, die passgenaues Marketing erlauben
(derlei ist übrigens ein schwer zu überschätzender Vorteil gegenüber klassischen Medien der jüngeren Vergangenheit, die trotz spezialisierter Media-Agenturen und eigener Inhouse-Angestellter “immer nur mit Schrot schießen” konnten).
“Digitale Verschmutzung”
Die Anzeigen würden in ein Umfeld von unbewusst wirkendem, Sucht erzeugendem Design (“addictive design”) eingebettet, das auf Basis aktuellster Grundlagenforschung erarbeitet worden sei und das sich in die Arbeitsteilung zwischen den Bestandteilen des Gehirns einschalte.
Mit der entwicklungsgeschichtlich jungen Neocortex wird gelernt – sobald das aber erfolgt ist, werde das Erlernte automatisiert und in ältere Bereiche des Kopfs verschoben.
Das ermögliche übrigens auch die gleichzeitige Ausführung unterschiedlicher Tätigkeiten.
Dieses Feature kann durch Sucht erzeugendes Design allerdings ‘gehackt’ werden, das in Ihrem Smartphone oder den Notifikationen Ihrer Social Media eingebettet ist.” (35/36)
Mehr als um einen vereinzelten hack handle es sich aber um eine beständige, langfristige Neuverdrahtung, ein rewiring, das
- kritische Erfolgsfaktoren schwäche wie z.B. die Fähigkeit Gratifikationen aufzuschieben oder Konzentrationsfähigkeit & Beharrlichkeit oder Impulskontrolle. Gefährdet seien aber auch kritisches Denken und eine relativ (gruppen)unabhängige Würdigung politischer (gesellschaftlicher) Phänomene.
- Eingegriffen werde auch in uralte soziale und emotionelle Mechanismen, die im Limbischen System, dem “mittleren Säugetier-Hirn” verankert sind. Dabei geht es etwa um den Aufbau von Gruppen oder um die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, in der “gefälschte” Bestärkungen bzw. Belohnungen geliefert werden (über die Ausschüttung von Botenstoffen, was bisher nur bei nicht-digitalen, “echten” Interaktionen stattgefunden hat). Als Folge davon soll sich Technoferenz einstellen, das umfassende Eindringen von Technologie in zwischenmenschliche Beziehungen.
- All das soll heute schon für die Lebenswelten Jugendlicher und junger Erwachsener dramatische Folgen zeitigen – etwa beim Cyberbullying, dem Mobbing unliebsamer Individuen, online.
Wahrscheinlich sei nichts davon intendiert, sagen die Autoren (und tun, rechtlich gesehen, gut daran).
Durch die Bank handle es sich wohl um ungewollte Nebeneffekte kommerzieller Aktivitäten. Auch liege den Autoren eine neue Maschinenstürmerei (“luddism”) ferne, wird beteuert.
Wir glauben, dass Automatisierung, künstliche Intelligenz, robotics, big data usw. dazu führen werden, dass viele Menschen länger leben und dass sie schließlich zu einer Art Nach-Knappheits-Gesellschaft führen können.” (154)
Bis dahin gehe es freilich darum, den Kampf gegen “digitale Verschmutzung” und schlechte eigene Gewohnheiten aufzunehmen (wie sich z.B. ständig unterbrechen zu lassen).
Dazu könne, wie im abschließenden 7. Kapitel erläutert, ein Stufenplan helfen, der mit der Niederschrift der eigenen life story sowie dem Führen eines Tagebuchs über digitale Angewohnheiten beginnt.
“Vernünftige und gesunde digitale Gewohnheiten” müssten jedenfalls speziell den Kindern nahe gebracht werden:
Die Kids tun nicht, was ihnen angeschafft wird, sondern was sie bei ihren Eltern sehen. Wenn SIE ihr Smartphone oder Tablett diszipinierter und kontrollierter nutzen, werden ihre Kinder es auch tun. Führen durch Beispiel funktioniert.” (172)
Imran Rashid, Soren Kenner, Offline. Free Your Mind from Smartphone and Social Media Stress. 2019
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