Die EU hat auf Geheiß ihres Kolonialherren einen gescheiterten Staat adoptieren und sich einem Feldzug gegen Russland anschließen müssen. Die dabei entstehenden Kosten spielen für den Auftraggeber keine Rolle, weil sie nicht bei ihm anfallen. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die europäischen Kampagnen gegen die orthodoxe Welt bestenfalls kostspielig und schlechtestenfalls lebensgefährlich waren.
Eine echte Bilanz der Kreuzzüge über die eigene Zivilisationsgrenze hinaus lässt sich frühestens nach Jahrzehnten, wenn nicht erst nach Jahrhunderten erstellen. Kurzfristig haben in jedem Fall einzelne Teilnehmer profitiert. Massiv profitiert. Das, was man “westeuropäisches Gesamtinteresse” nennen könnte, hat jedoch immer großen Schaden davongetragen; ausgedrückt in Geld, vor allem aber in Form von auf Schlachtfeldern verbleichenden Soldatenknochen.
Der Schaden entstand erstens durch nicht “beabsichtigte Konsequenzen”, wie meinem ersten historischen Schaustück zu entnehmen ist; und zweitens über kriegerische Backlashes, wie das im letzten Beispiel zu finden ist.
Die folgenden Kurzzusammenfassungen sind Kondensate aus einem Dutzend historischer Texte. Im ersten Fall geht es um die Vernichtung Ostroms durch ein westeuropäisches Kreuzfahrerheer, bei Nummer zwei und drei um militärische Vorstöße gegen das Zarenreich. Im vierten Fall ist schließlich die Operation Barbarossa das Thema, also der 1941 gestartete Versuch Hitlers, die Sowjetunion zu vernichten.
1204: Die Plünderung Konstantinopels
Während seiner tausendjährigen Lebenszeit ist Ostrom bzw. das spätere Byzantinische Reich mehrmals in lebensbedrohliche Krisen geraten, denen es auf wundersame Weise entrinnen konnte. Dieses Imperium war das vielleicht widerstandsfähigste politische Gemeinwesen seiner Zeit.
Aber am 29. Mai 1453 war für das bis dahin auf einen Stadtstaat geschrumpfte politische Gebilde Schluss. Konstantinopel, die vom römischen Kaiser Konstantin gegründete Stadt, fiel in die Hand der Türken.
Natürlich haben Bürokratie, Korruption und der sprichwörtlich gewordene Byzantinismus viel zum Untergang der Polis beigetragen. Grundgelegt wurde er aber 250 Jahre davor mit der Einnahme Konstantinopels durch ein westliches Kreuzfahrerheer sowie durch die danach folgende 50jährige lateinische Herrschaft. Diese Dinge haben Byzanz das Genick gebrochen. Sie bildeten eine Zäsur, von der sich Ostrom nie erholen würde – weder militärisch noch ökonomisch.
Seine auf dem Seehandel gründende Vormachtstellung im östlichen Mittelmehr ging damit zu Ende und Genua, vor allem aber Venedig traten sein kommerzielles Erbe an. Besonders Letzteres zog ungeheuren Gewinn aus dem Unternehmen. Die Beute, die es 1204 machte, war eine Kleinigkeit, vergleicht man diese mit den Handelsprivilegien, die die Aktion einbrachte.
In der heutigen Sprache würde man den Vierten Kreuzzug als Joint-Venture von Franken aller Art, dem Papstttum und einer norditalienischen Handelsrepublik bezeichnen. Die zentrale Begründung der Mission war damals über jeden Zweifel erhaben: die Rückeroberung der heiligen Stätten in Palästina. Aber auch der “Abstecher” nach Konstantinopel war fein argumentiert: Er war notwendig, ja geradezu alternativlos, um die die Wiedereinsetzung eines rechtmäßigen Herrschers zu erwirken.
Dummerweise schafften es die christlichen Gotteskrieger nie bis ins Heilige Land. Weder die Kreuzfahrer noch der von ihnen protegierte, später nur ganz kurz amtierende rechtmäßige Herrscher pflegten nämlich ihre Rechnungen zu bezahlen. Dem venezianischen Häuptling, dem neunzigjährigen Dogen Enrico Dandolo, blieb daher keine andere Wahl als das Unternehmen zu kapern. Er musste versuchen, wenigstens seine bisherigen Auslagen zurückzubekommen.
Dandolo hatte schon den Bau der riesigen Kreuszfahrerflotte auf Kredit zu verantworten, ein Geschäft, das einen hohen Gewinn versprach – das aber auch das bis dahin riskanteste Projekt der Stadtgeschichte war. Es wäre um ein Haar auch daneben gegangen. Ohne den Raubzug hätten die Venezianer nicht einmal ein Drittel des ursprünglich vereinbarten Preises – 85.000 Silbermark – gesehen.
Die melodramatischen Inszenierungen, mit denen man die Einwilligung der Volksversammlung zum Kreuzzug erlangte, hatten es in sich. Sie brauchen keinen Vergleich mit den heutigen Gegenstücken zu scheuen. Der Historiker Thomas Madden schildert plastisch einen Auftritt der fränkischen Kreuzfahrer zusammen mit den venezianischen Herrschern im Gefolge eines Hochamts in San Marco:
An einem noch einigermaßen intakten oströmischen Reich wären die türkischen Sultane nicht so einfach vorbeigekommen. So aber war der Weg nach Europa noch vor dem endgültigen Ableben Byzanzs 250 Jahre später frei. Von etwa 1350 bis zum Ende des 17. Jahrhunderts arbeiteten sich die Osmanen über den Balkan nach Mitteleuropa vor, wo sie erst vor den Toren Wiens zum Stillstand gebracht wurden.
Die türkische Herrschaft über Südosteuropa sollte noch weitere 150 Jahre dauern, ehe Befreiungsbewegungen von Griechenland bis Serbien sie abschütteln konnten. Was das alles an Blut und Geld gekostet hat, kann niemand seriös beziffern. Sicher ist nur: der Schaden war um ein Vielfaches höher als der Gewinn, den Venezianer und Franken aus dem Raubzug von 1204 geschlagen haben.
1812: Napoleon gibt dem Zaren eine Steilvorlage
Das nächste Kapitel unserer histoire paradoxale spielt im Frankreich des beginnenden 19. Jahrhunderts.
Napoleon hat zu diesem Zeitpunkt den ganzen Kontinent unter seiner Knute und die europäischen Staaten murren gegen die Fremdherrschaft des Newcomers, wagen aber nichts gegen ihn zu unternehmen. Überall brodelt es, aber nur in Spanien gibt es einen offenen Aufstand.
Und – natürlich: England ist und bleibt der Feind. England, gegen das Napoleon eine Wirtschaftsblockade (“Kontinentalsperre”) verhängt hat, muss sich nicht arrangieren. Es befindet sich außerhalb der Reichweite des Kaisers.
Um seine Probleme mit England und Spanien zu lösen, schlägt Napoleon gegen Russland los (offenbar ohne einen Gedanken an jenen Schwedenkönig zu verschwenden, der hundert Jahre zuvor in Russland einmarschiert war und dabei seinen Staat auf’s Spiel setzte).
1812 beginnt’s. Napoleon Bonapartes anfänglich 650.000 Mann starke Grande Armée besteht nur aus einem Drittel aus Franzosen. Rheinbund-Deutsche, Italiener und Polen machen zusammen ein weiteres Drittel aus. Der Rest verteilte sich auf die anderen Nationen. Es ist eine europäische Armee. Nur Preußen und Schweden sind nicht dabei.
Obwohl militärisch fast fehlerlos, artet der Feldzug rasch in ein Debakel aus. Gründe sind die Wetterverhältnisse (Niederschlag, Frost), aber auch die „tiefe“ russische Verteidigungsstrategie, die auf eigene Verluste keine Rücksicht nimmt.
Im September zieht Napoleon in den Kreml ein, aber das nützt ihm nichts. Statt zu kapitulieren, sitzt sich Zar Alexander in seiner zweiten Residenz in Petersburg den Hintern platt und wartet…. – auf den Winter und darauf, dass Napoleon die Verpflegung ausgeht. Einen Monat nach seiner Ankunft in Moskau tritt Napoleon mit 80.000 Mann den Rückzug an und noch einmal einen Monat später waren von der glorreichen Grande Armée nur mehr 30.000 Mann übrig.
Der Russlandfeldzug war erst das vorvorletzte Kapitel der Napoleon-Saga – aber jenes, in dem das Drama des Korsen endgültig zur Tragödie wurde. Der Fehlschlag ermutigte die Preußen und Österreicher zum Aufstand.
Diese drei Mächte (und England) sind es auch, die gestärkt aus dem folgenden Wiener Kongress hervorgehen. Österreich gewinnt Gebiete in Oberitalien, muss dafür aber seine niederländischen Besitzungen abgeben. Preußen bekommt große Teile Nordwestdeutschlands sowie Sachsens. Russland war auf dem Kontinent aber der wohl größte Gewinner. Es bekam einen formell unabhängigen polnischen Marionettenstaat zugeschlagen, der umgangssprachlich Kongresspolen genannt wurde. Obwohl ihm das eigentlich nicht erlaubt war, schluckte es im Lauf der folgenden Jahrzehnte Rumpfpolen (ein Aufstand nationalistischer Polen kam gerade gelegen und wurde niedergeschlagen).
Der Sieg über Napoleon ermöglicht dem russischen Zarentum die Fortsetzung einer seit Mitte des 17. Jahrhunderts begonnen Westbewegung. Gleichzeitig markiert er ihren Endpunkt. Weiter westlich wird nur mehr Stalin nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs stehen.
Es geht auch nicht nur um die polnische Königskrone. Im Rahmen der Heiligen Allianz gewinnt der Zar dramatisch Einfluss auf die Politik in Westeuropa; einen Einfluss, den er bis dahin nicht gehabt hatte. Die russische Macht manifestiert sich in der Niederschlagung von liberalen und nationalen Aufständen in Südeuropa. Nicht einmal die Erhebung christlich-orthodoxer Griechen gegen islamische Türken fand Gnade vor den Augen von Zar Nikolaus I. Für ihn war auch dies Aufruhr gegen eine gottgewollte Herrschaft.
1853: “Der letzte Kreuzzug“ auf der Krim
Im Krimkrieg in der Mitte des 19. Jahrhunderts kamen an die 800.000 Menschen um, unter ihnen 500.000 bis 600.000 Russen. Man kann diesen Konflikt eigentllich schon als den ersten des 20. Jahrhunderts sehen. In ihm kämpfen die Hohe Pforte, England, Frankreich und Sardinien (“Italien”) gegen den Zaren. Die Westmächte fürchten, dass sich Russland große Stücke aus dem dahinsiechenden Osmanischen Reich herausreißen könnte.
Bis heute wirkt der nach außen hin sichtbare Anlass des Kriegs nichtig: die Russen marschierten in zwei Fürstentümer im heutigen Rumänien ein, die nur formal noch unter türkischer Oberhoheit standen.Die Kampfhandlungen begannen also zwischen Türken und Russen.
Die Westmächte entsandten in der Folge ein Expeditionskorps auf die Krim, die sie schließlich unter massivstem Artillerieeinsatz erobern konnten. (Von einem Vorstoß ins Landesinnere Russlands nahm man wegen der Aussichtslosigkeit des Vorhabens Abstand).
Militärisch verlor Russland den Krieg – aber ohne dass es nennenswert Territorium abgeben musste. Die russische Seele empfand die Eroberung der Halbinsel dennoch als nationalen Schimpf (was wenig später unter einem neuen Zaren immerhin weit reichende Staatsreformen ermöglichte).
Das Gefühl, vom Westen geschändet worden zu sein, war übrigens eines, das konservative und liberale Russen teilten (letztere inklusive dem jungen Leo Tolstoi). Die Reaktionäre waren deswegen dem Westen böse, die Liberalen dem eigenen reformunfähigen Regime, das das zugelassen hatte.
Neben dem geostrategischen Kalkül, keinen Machtzuwachs Russlands hinzunehmen, hatte der Westen eine zweite mächtige Triebfeder. Es war dies die weit verbreitete Russophobie, die in den Jahren der Heiligen Allianz durch die liberaleren Öffentlichkeiten schwappte – speziell in London. Den wachen Bürgern im Herz des englischen Kolonialreichs galt Russland als Hort der Reaktion, das den erwachenden unterdrückten Völkern ihre demokratische und nationale Selbstfindung versagte (konkret den Polen und Ungarn).
Das war grundsätzlich keineswegs falsch. Der liberale Abscheu gegen die Moskowiter ruhte aber nur teilweise auf echten politischen Gefühlen. Er war der gefragte Treibstoff für antirussische Kriegspolitik. Es waren Ressentiments, die gehegt und gepflegt und mit Hilfe von Fälschungen gezielt aufgepäppelt wurden.
Die Atmosphäre, die Orlando Figes schildert, kommt dem heutigen Beobachter sicher bekannt vor. Die Anti-Putin-Hysterie, in die sich Teile unserer heutigen Medien hineingesteigert habe, wirkt wie eine naturgetreue Kopie der damaligen Ressentiments.
Mit dem „kleinen Unterschied”, dass alles, was Putin heute in Sachen Krim und Donbass vorgeworfen werden kann, weitaus fadenscheiniger ist, als was der liberale Westen nach 1815 am Zarentum auszusetzen hatte.
Damals wie heute geht es im westlichen Diskurs nicht um so profane Dinge wie das Streben nach Macht und Reichtum, die der Auseinandersetzung tatsächlich zugrunde liegen. Dem Westen ging und geht es vordergründig um sein Image und um das Selbstbild, zur Achse des Guten zu gehören. Das macht nach außen auch am meisten her. Bei den dummen Kerls hat es schon immer am stärksten gezogen.
1856 wurde in Paris Friede geschlossen. Russland verlor etwas Land nahe des Donaudeltas, was die benachbarten Habsburger beruhigte (die sich abzeichnende Staatsbildung Rumäniens war ihnen aber auch nicht recht).
Die Hohe Pforte wurde mit einer de facto-Bestandsgarantie der Westmächte ausgestattet.
Die Demilitarisierung des Schwarzen Meeres war – strategisch gesehen – die für Moskau schlimmste Klausel (es dauerte 25 Jahre bis diese auf diplomatischem Parkett wieder wegverhandelt war).
Fazit: Die Niederlage versetzte dem Zaren und seiner reaktionären Politik zweifellos einen Dämpfer. Der Krimkrieg zerstörte aber auch das System der kollektiven Sicherheit, das die konservativen Mächte nach dem Sturz Napoleons gebildet hatten.
Außer den Irredentisten in Italien und dem preußischen König gab es in Kontinentaleuropa keinen wirklichen Gewinner des Krimkriegs. Selbst Frankreich profitierte nur ganz kurzfristig und bekam die Rechnung 14 Jahre später von Preußen präsentiert.
Wie Preußen blieb Österreich zwar neutral, wurde durch den Krieg aber geschwächt. Trotz seiner formellen Neutralität verhielt sich das Habsburgerreich in den Augen Moskaus so perfid, dass die Russen danach zunehmend auf Distanz gingen.
So wurde der Krimkrieg zum Probegalopp für das, was einmal „Urkatastrophe Europas” genannt wurde. Der Krimkrieg hat dem 60 Jahre später beginnenden Ersten Weltkrieg den Weg gebahnt.
1941: Hitler lädt die Boleschewisten ein
Die Operation Barbarossa ist heute noch so bekannt, dass man nicht viel erzählen muss. Die attackierende Armee war stärker “deutsch” geprägt als die Grande Armée “französisch” war – Divisionen aus allen Ecken des Kontinents zeigen aber, dass auch diese Armee eine europäische war.
Seit der Niederlage im Zweiten Weltkrieg wird Europa im allgemeinen und Deutschland im speziellen besachwaltet – zuerst von zwei und seit 1991 nur mehr von einer Seite.
1945 stand Stalin in Mitteleuropa – viel weiter westlich als je ein (echter) Zar vor ihm gestanden war.
Die Gebiete, in denen damals die Rote Armee stand, hatten davor niemals zur orthodoxen Welt gehört und niemals der vie en russe gehuldigt. Nicht Polen oder das Baltikum, aber auch nicht Ungarn, Tschechien und das frühere Ostdeutschland.
Der Sieg im Landkrieg an der Ostfront und die Vereinbarungen von Jalta ermöglichten Stalin eine historische Grenzüberschreitung, die auf die Dauer nicht haltbar war. Die sowjetischen und russischen Spitzenpolitiker seit Gorbatschow – aber auch historisch versierte Russland-Ideologen wie Alexander Dugin wissen das.
Kämen in Moskau Leute wie er ans Ruder, würden sie Westeuropa mitsamt seinem nicht-orthodoxen Wurmfortsatz in CEE vielleicht arg piesacken – sie würden aber kaum auf die Idee kommen, russische Panzer an den Rhein rollen zu lassen. Es wäre der welthistorische Fehler, den Napoleon und Hitler begangen haben – nur halt spiegelverkehrt.
Und was bedeutet das für die Ukraine ?
Das ist eine wieder andere, kompliziertere Geschichte als z.B. Polen und Tschechien.
Für die Großrussen ist die heutige Ukraine ein eindeutiger Fall: Der Kiewer Rus ist die historische Keimzelle von Staat und narod und das Ukrainische ist ein russischer Dialekt. Was gibt es da noch lange herumzureden ?
Beobachter aus Westeuropa sehen das üblicherweise konträr – ihre Argumente sind aber ähnlich simpel gestrickt. Statt eines zweifelhaften historischen Narrativs ziehen sie es vor, den Konflikt in der Ostukraine überhaupt aus dem historischen Kontext herauszulösen. Sie sehen in ihm den Abwehrkampf eines im Herzen dem Westen zugetanen Staats(volks), der (das) sich gegen völkerrechtswidrige Interventionen eines übermächtigen Nachbarn zur Wehr setzt.
Während der Blick der Großrussen sofort auf ein halb mythisches, mittelalterliches Gebilde fällt, weigern sich die Verfechter der Westorientierung, länger als 24 Jahre – also über das Jahr 1991 hinaus – zurückzublicken.
Die historische Wahrheit, die sie ignorieren, ist aber: Das Staatsgebiet der heutigen Ukraine hat während der vergangenen 200 Jahre im Regelfall zum Zarenreich bzw. zur Sowjetunion gehört. Auch der westliche Teil.
Irgendwann im 16./17. Jahrhundert gab es Ansätze zu einem Staat von Kosaken, freiheitsliebenden orthodoxen Bauern und Kriegern, die von den polnischen Adeligen die Nase voll hatten. Sie hatten die Wahl zwischen Pest und Cholera und entschieden sich für letztere (Russland).
Das war’s. Seither gibt es keine reellen Anzeichen für eine eigenständige ukrainische Staatsbildung – jedenfalls nicht vor dem 20. Jahrhundert. Die Hauptstadt Kiew gehörte seit 1654 zu Russland und blieb bis 1919 auch so.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde dann ein kurzlebiger Versuch unternommen, eine unabhängige (nicht-sozialistische)Ukraine zu schaffen, der nicht einmal zwei Jahre alt wurde.
Im daran anschließenden polnisch-ukrainischen bzw. polnisch-sowjetischen Krieg gelang es Marschall Pilsudski, die heutige Westukraine Polen einzuverleiben und das blieb während der folgenden 18 Jahre der Stand der Dinge.
Das knapp östlich der neuen Grenze liegende Kiew wurde die Hauptstadt der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Mit dem Hitler-Stalinpakt von 1939 holten sich die Sowjets das 1921 verlorene “russische” Land wieder zurück und das hatte bis zum Ende des roten Vielvölkerreichs Bestand (abgesehen von ca. drei Jahren unter deutscher Herrschaft). Der sozialistische Teilstaat der UdSSR war praktisch die Ukraine in ihren heutigen Grenzen (mit Ausnahme der Krim).
Nach einem Referendum mit 90 Prozent Zustimmung entstand 1991 eine unabhängige nicht-sozialistische Republik.
Die ist unzweifelhaft ein Völkerrechtssubjekt. Weil/insofern Moskau die Krim annektiert hat und die Separatisten jenseits seiner Grenzen unterstützt, verletzt es die Rechte dieses 1991 geschaffenen Staats.
Freilich haben aber auch die Bewohner der Krim und des Donbass ein Recht auf Sezession und das läuft letztlich auf eine Debatte über die rechtlichen Voraussetzungen für die Referenda des Jahres 2014 hinaus. Haben diese den Erfordernissen für legitime Abstimmungen über die Loslösung von der Ukraine Genüge getan ?
Das ist eine unbefriedigende Fachdiskussion – zumindest für Leute, die an internationalem Recht nicht so sehr interessiert sind.
Solche fragen sich höchstens
- was die Leute in den betreffenden Gebieten selbst wollen und
- welche historischen Rechte der (unfreiwillige) “Zedent” geltend machen kann.
Und hier sieht es für die Ukraine nicht zum Besten aus – um das einmal vorsichtig auszudrücken: denn die Krim gehörte seit 1783 zum Zarenreich und der Donbass noch gut hundert Jahre länger.
Je näher man sich die Territorialgeschichte der Ukraine ansieht, desto stärker gemahnen der Staatsverband und dessen Grenzen an die Imitation eines Nationalstaats; und desto stärker wird man an die willkürlichen Grenzziehungen erinnert, die so viel Leid in Afrika verursacht haben.
Als Daumenregel gilt: die westliche Ukraine hat sich „immer schon“ an Polen, Litauen und (später) Österreich orientiert, die östliche an Moskau.
Damit soll nicht behauptet werden, dass die heutigen Ukrainer nicht das Recht hätten, eine Willensnation in den heutigen Grenzen zu bilden.
Aber es erklärt, warum es kein Wunder ist, dass die beiden Bestandteile unterschiedlich viel Sympathie für das Projekt eines westlich bzw. polnisch-baltisch orientierten Gesamtstaates aufbringen. Eine friedliche Teilung des Landes würde beiden Seiten helfen. Dass eine solche funktionieren kann, zeigt die Scheidung von Tschechen und Slowaken im Jahr 1993.
Foto: Aleister Crowley, Victor Adam, Wikimedia Commons
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