Die Wahl von Boris Johnson zum neuen Premierminister des United Kingdom muss als eines der erstaunlichsten Ereignisse der britischen Geschichte gelten.Der Mann scheint weder relevante Erfahrungen im Krisenmanagement noch die Majorität der Parlamentarier hinter sich zu haben. Ein Gastkommentar von John James.
Das politische System Großbritanniens bietet zwar ein ungewöhnlich hohes Maß an Flexibilität. Diese Flexibiltät hat es dem Parlament in der Vergangenheit immer wieder erlaubt, einen für Krisenperioden unzeitgemäßen Premier abzusetzen und durch einen für die bevorstehenden Herausforderungen besser Geeigneten zu ersetzen.
Das klassische Beispiel ist natürlich Churchill, der nach der Norwegen-Niederlage 1940 Chamberlain ersetzte.
Churchill war wie Johnson zwar ein Maverick, allerdings einer, der klare Ziele hatte, diese klar benennen konnte und darüber hinaus bereit war, bis zum bitteren Ende zu gehen um diese umzusetzen.
Zweitens wurde Churchill vom Parlament ausgesucht und hatte die Unterstützung aller Parlamentsparteien. Er bildete eine Nationale Koalitionsregierung und konnte mit seiner Rhetorik die politischen Spannungen im Lande überwinden.
Dank den verpfuschten Verfassungsreformen der letzten 20 Jahren in GB, die das Ziel hatten, aus einem Königreich freier und selbstbestimmender Bürger eine politisch korrekte, plebiszitäre und bevormundende Demokratie zu machen, wurde Mr Johnson nun von den Mitgliedern der Conservative Party gewählt und dem Parlament aufoktroyiert.
In diesem Parlament verfügt er vermutlich über keine Mehrheit – auch wenn viele Parteikollegen Anfang Oktober davor zurückschrecken werden seine Regierung zu stürzen.
Sie werden nicht deswegen so handeln, weil sie Johnson unterstützen, sondern weil Neuwahlen im Oktober den von ihnen befürchteten und bekämpften No Deal Brexit noch wahrscheinlicher machen würden.
Falls am 31.10.2019 in Großbritannien noch Wahlkampf wäre und es somit keine handlungsfähige Regierung gäbe, könnte der No Deal Brexit als default option erfolgen. Solange diese dysfunktionale Elite in London am Ruder ist, ist das jedenfalls nicht auszuschließen.
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Im Gegensatz zu Churchill hat Johnson aus seiner politischen Laufbahn keine nennenswerten Erfolge vorzuweisen.
Er ist ein Dampfplauderer, er kann Minuten lang Witze erzählen und schwierigen Fragen ausweichen. Es ist nicht einmal klar, ob sein Hauptberuf Journalist oder Politker ist.
Eins aber ist leider allzu klar: viele Menschen, die mit Johnson zusammenarbeiten, mögen ihn nicht, vertrauen ihm nicht und/oder nehmen ihn nicht ernst.
Das gilt für viele seiner Journalistenkollegen, für viele seiner Ministerialkollegen im In- und Ausland und für viele Beamte, die mit ihm und für ihn gearbeitet haben.
Johnson wurde aus dem Nichts Bürgermeister von London und hat dabei zugegebenermaßen eine gute Show abgeliefert.
Dann wurde er Parlamentarier und danach wieder wie aus dem Nichts Außenminister. Nach dem allgemeinen Urteil des Kommentariats scheiterte er in dieser Funktion.
Unvergessen seine unwahre Behauptung im deutschen Radio, die Wissenschaftler in Porton Down (staatliches Chemiewaffen-Labor) hätten ihm versichert, dass das Skripal-Gift nur in Russland hätte hergestellt werden können.
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Damals haben die EU-Länder mit GB noch Solidarität gezeigt. Auffallend, dass diese in der jetzigen Irankrise zu GBs misslicher Lage schweigen.
Großbritannien hat nach 50 Jahren politischer Integration eine Schicht an Staatsbeamten und hohen Politikern, die sich eine Wiederherstellung der vollen Souveränität des Landes entweder nicht vorstellen können oder dies nicht wollen.
Was Großbritannien braucht, ist ein Politker, der detailbesessen ist und den Beamten auf die Finger schauen kann, einen brillanten Diplomaten, der mit Trump, Merkel, Macron, Van der Leyen, Barnier und Selmayr verhandeln kann und jemanden, der sich auf eine große Mehrheit im Parlament stützen kann und das Vertrauen eines Großteils der Bevölkerug genießt.
Es ist nicht auszuschließen, dass dies alles dem Johnson in den nächsten drei Monaiten gelingen wird. Johnson ist, trotz seiner 50+ Jahre, gewissermaßen ein immer noch unbeschriebenes Blatt.
Es ist nicht auszuschließen, dass es einem Menschen, der in seinem bisherigen Leben keine großen Projekte umgesetzt hat, gelingen kann, eine tiefgreifende und umwälzende Reform der Rahmenbedingungen, unter denen eine hochentwickelte und hochkomplexe moderne Gesellschaft operiert, durchzuführen.
Allein, mir fehlt der Glaube.
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Gewählt haben ihn jene Leute, die einen Brexit um jeden Preis haben wollen. Ihre Einstellung ist: “Sind wir einmal draußen, dann müssen diese Leute in London endlich seriös arbeiten. Erst dann können wir die wirklichen Probleme des Landes angehen.”
Falls Johnson den Brexit wirklich durchführt, könnte seine Amtszeit trotzdem sehr kurz werden.
Im Hintergrund arbeitet zielstrebig Nigel Farage an seiner Verfassungsreform 2.0. Er verfügt zwar auch über keine parlamentarische Mehrheit, aber in größerem Ausmaß als Johnson über die Qualitäten, die ich am Anfang dieses Kommentars aufgelistet habe.
Bild: TomPumpkin69 [CC BY-SA 4.0] via Wikimedia Commons
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