Eine Kritik der Datafizierung

512px-Roman-mosaic-know-thyself“Technologies of Speculation” heißt eine kürzlich erschienene Kritik der Datafizierung und wie schon der Titel des Buchs verrät, geht es um den naiven Glauben an die interesselose Objektivität Daten-getriebenen Wissens cover_resized- eines zeitgenössischen Mythos, der nicht halten kann, was er verspricht. Sun-Ha Hong bemüht in seiner Analyse scheinbar so disparate  Phänomene wie die von Edward Snowden beschriebenen staatlichen Spitzel-Technologien und hippe Selbstüberwachungsmaschinen vom Schrittezähler bis hin zum elektronischen Stimmungsanzeiger über die Messung der Leitfähigkeit der Haut.

Auch Kuriosa dürfen hier nicht fehlen wie z.B. die smarte Maschine,

die sich über das Sex-Leben seines (in diesem Fall: männlichen) Trägers auf dem Laufenden hält und z.B. Lendenstöße pro Zeiteinheit misst (“thrusts per minute”).

Vergleichbare Formen von knowledge, argumentiert Hong (Sun-Ha dürfte der Vorname sein), unterschieden sich wesentlich vom gnothi seauton des Orakels von Delphi

- oder zumindest von dem, wie die humanistisch-aufklärerische Tradition diesen Imperativ interpretiert hat, denn: 

das datafizierte Wissen sei ein maschinell erzeugtes und interpretiertes, das jenseits der Kognition des “guten, liberalen Subjekts” – eines nach Meinung des Autors “obsoleten Mythos” – entstehe.

“Erkenne dich selbst” im Sinn alter Griechisch- und Latein-Professoren gibt es in unseren Modernen Zeiten mit ihrer maschinell augmentierten Menschheit (Menschlichkeit) also nicht (mehr).

Ja, öffentlich werde in Lippenbekenntnissen “Problembewusstsein” signalisiert,

gleichzeitig aber sei datafizierte Wahrheit zur neuen Normalität und Norm, zum default for better knowledge geworden (auch dank politischer Gubernanz und Unternehmen).

Mehr noch: im quasi-rationalen Diskurs der Gegenwart habe sich die Datafizierung sogar zu einer Art “Standard für die Wahrheit” entwickelt.

Dabei, lamentiert unser Techno-Pessimist (oder -Realist), seien staatliche und kommerzielle Anwendungen durch

  • willkürliche Einordnungen.
  • verschmutzte Daten,
  • spekulative Praktiken und
  • jede Menge menschlicher Voreingenommenheit gekennzeichnet (arbitrary classifications, speculative practices, messy data, human bias).

Am schlimmsten sei die süchtige Suche nach irgendwelchen Korrelationen, die dann als Wahrheit sui generis ausgegeben oder politisch genehm interpretiert würden:

As society grows used to operationalizing correlations without ever discovering a coherent theory or causal relationship, the discovery of correlation, any correlation, starts to pass as the discovery of valid knowledge.” (185)

In den – technisch meist genauen – “Fabrikationen” der angewandten Datafizierung entstünde nicht so sehr ein völlig neues Wissens-Regime,

als viel mehr die Gelegenheit, alt gewohnte Praktiken der Verwendung von Zahlen und Maschinen zu “erweitern und verdrehen” (3).

Technologie “nicht für uns”

Für Otto und Grete Normalverbraucher sei derlei schon lange nicht mehr durchschaubar und zwar

- weder die Schleppnetz-Datensammlung der NSA, noch die Funktionsweise der schicken intelligenten Maschinen zur Überwachung der eigenen Körper.

Aber jeder Versuch zu “enthüllen” bzw. “aufklärerisch zu wirken” (wie jener von Snowden) sei letztlich kontraproduktiv, denn es entstünden

recessive objects: things that promise to extend our knowledge but simultaneously manifest the contested and opaque nature of that knowledge.” (8)

Das Quantifizierte Selbst der frühen Tech-Enthusiasten sei gerade dabei, sich zum “Quantifizierten Wir” hoch zu skalieren

(was “rein technisch” als Höhepunkt der Demokratie gesehen werden könnte).

Faktisch sei solch Quantifizierung der Körper freilich ein Kontrollmechanismus, denn:

Diese Technologie ist nicht für uns (und unsere Bequemlichkeit)”,

sagt Hong.

Jedenfalls solle nicht alles, was technisch umsetzbar sei, auch wirklich getan werden.

Die versprochene dienstbare Rolle von Technologie & Automatisierung, das reibungsarme und effizientere Funktionieren der Prozesse,

stelle sich so nicht ein – oder nur zu Lasten des humanen Teils der “Kooperative von Mensch und Maschine”.

Beispielsweise könne Data Sense nicht nur zur “Abrichtung” von Maschinen, sondern auch zum Anlernen von Menschen verwendet werden,

wobei z.B. Handelsangestellte jenes Lächeln trainieren könnten (müssten), die der Gesichtserkennungs-Software ihrer Arbeitgeber Genüge tue (197).

Im “allgemeineren Publikum” der Bürger/Untertanen würden die Anforderungen an die “Lesbarkeit durch Maschinen”jedenfalls immer höher

(und es ist absehbar, dass “maschinell nicht auslesbaren Individuen” der Zugang zu diversen Angeboten und Dienstleistungen versagt werden wird).

What the state sees is what the state may control, and thus, the citizen is required to become readable in a uniform and homogenous way.”

***

Dieser Blogger beurteilt die “Nettobilanz” etlicher von Hong angeführter Technologien etwas anders,

ist aber der Ansicht, dass die Perspektive dieses Autors nützlich ist und die “andere Seite der Medaille” darstellt (die bei mehr oder weniger naiven Tech-Enthusiasten oft unter den Tisch fällt).

Des Weiteren glaubt er aber, dass die Vollendung der hier thematisierten Tendenzen nicht mehr im gegenwärtigen “Energie-Regime” stattfinden wird

- dass sich die geschilderten Probleme aber dringlicher stellen könnten,

sollten Bereitstellung und Verteilung von Elektrizität und/oder Zugang zum Internet einst von nicht rechenschaftspflichtigen lokalen Machtmonopolisten organisiert/vermittelt werden.

Sun-Ha Hong, Technologies of Speculation: The Limits of Knowledge in a Data-Driven Society. 2020

Bild: Public Domain via Wiki Commons

Unabhängiger Journalist

Comments are closed, but trackbacks and pingbacks are open.