Eine transhistorische Krisenanalyse via Datenbank

cover_turchin_resizedPeter Turchin, ein Biologe, den es in die Politik verschlagen hat, hat ein neues Buch vorgelegt, das ideologisch nach dem Geschmack einiger Schwurbler sein mag, das einer “seriösen Historie” aber einen Bärendienst erweist. Diesen könnte man folgendermaßen umschreiben: Vor dem datengestützten Auge des Kliodynamikers Turchinscher Prägung sind alle Krisen irgendwie ähnlich; die Krise des Spätmittelalters in Frankreich, der bäuerliche Taiping-Aufstand der frühen Qing-Dynastie, die jüdische Rebellion gegen Rom im 1. und der US-Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert etwa. T. glaubt nämlich an (zwei) überhistorische Konstanten, die erst in “Zeitalter der Zwietracht” und dann blutige Konflikte mündeten.

Diese sind

  • “Elite-Überproduktion” bzw. ein “Überschuss” von Elite-Aspiranten sowie
  • die sozioökonomische Polarisierung vulgo Verarmung der “commoners” plus “Umverteilung nach oben über die sg. Vermögenspumpe du jour”,

denen seit dem Reich von Akkad Krisen und gewaltsame Konflikte unmittelbar vorangegangen sein sollen.

Nun soll gar nicht bestritten werden, dass (nicht nur) aus Sicht der Systemtheorie beide Phänomene “destabilisierend wirken” und dass diese in unterschiedlicher Form immer wieder auftauchen;

und auch nicht, dass aktuelle gesellschaftliche Tendenzen in den USA und Westeuropa und Folgen der zentralbankgetriebenen Zins- und Geldpolitik ebendort “auf einer solchen Folie” interpretiert werden können

- aber von da bis zu einer modernen Geschichts- bzw. Klassenkampftheorie ist es ein weiter Weg.

Das größte, aber bei weitem nicht einzige Problem für ein solches Vorhaben ist der Umstand, dass vor – sagen wir: ungefähr 1800 Herrschaftsverbände von Krisen heimgesucht wurden,

die in einer agrarischen Gesellschaft existierten und deren “zivilisatorische” und kriegerische Entwicklung von den Wechselfällen der Energieaneignung über Schlägerungen geprägt waren.

Danach änderte sich sukzessive alles.

Das zuvor Gesagte gilt auch für das frühe Römische Kaiserreich, wo “Politik”

zwar hauptsächlich in der “urbs” gemacht wurde,

dessen Energiebasis aber

  • einerseits in den Getreideanbaugebieten jenseits des Mittelmeers und
  • andererseits in all jenen Provinzen lag, in denen es Holz für die Metallproduktion (Eisen, Silber) sowie für den (Schiffs-)Bau gab.

Das Rom Neros ist auch jenes Bespiel, in denen die Schwächen und Schnitzer Turchins am sichtbarsten werden

(zumindest für diesen Blogger).

Liest man etwa das 7. Kapitel von “End Times”,

könnte man auf die Idee kommen, dass der Untergang Westroms dem Tod Neros bald folgte und nicht, dass

  • Rom nach fast jeder Metrik in den folgenden zwei Jahrhunderten immer mächtiger wurde und
  • es erst 400 Jahre nach Neros Tod unterging
  • (die altrömischen “ages of discord” fanden übrigens 100 bis 200 Jahre vor Nero statt, in der späten Republik und im Übergang zum “Prinzipat”)

Dieser Blogger, der vor langer Zeit einmal Geschichte studiert hat, der aber bei Gott nicht überall gleich gut informiert ist, vermutet, dass bei Bedarf die Fakten nicht nur hier “passend gemacht wurden”.

Die Hauptstoßrichtung von Turchins Buch ist aber eine innenpolitisch-US-amerikanische, eine Variante des Narrativs vom Kampf der US-Demokratie gegen die “Bedrohung von rechts”.

Man kann Turchins Perspektive nicht direkt US-demokratisch nennen, weil die Demokraten in den Augen des Autors nach FDR die “Arbeiter verraten” haben,

die Demokraten seien gegenüber den “NatCons” und deren radikal rechten Sturmtruppen & “nützlichen Idioten” wie Steve Bannon oder Tucker Carlson aber das kleinere Übel

- denn immerhin seien sie heute “nur” die Partei der obersten 10 Prozent,

wohingegen die Republikaner jene des obersten 1 Prozent, der unsichtbaren “wirklich Mächtigen” seien.

Die Republikaner seien (nicht ganz) die Partei des “Konter-Elitisten” Donald Trump, von dem alles Mögliche behauptet wird

- nur nicht, dass dieser – wie man argumentieren könnte -  auch ein lupenreiner Demokrat ist (nicht im parteipolitischen, wohl aber im Sinn von “Diktatur der Mehrheit”).

Und wie unter politischen Heuchlern üblich,

wird Trump & Co. eine Menge angekreidet, was die andere Seite genauso, wenn auch “sophistizierter” gemacht hat.

Turchin vergisst in einer Reise nach Jerusalem-Analogie auch nicht zu insinuieren, dass Rechtspopulisten wie Trump beim heutigen demokratischen Spiel schummeln,

wofür in concreto jeder tragfähige Beleg schuldig geblieben wird (wie so oft).

Aber das wäre schon wieder Stoff für einen neuen Eintrag

- einer, der in englischer Sprache in den USA erscheinen müsste.

Peter Turchin, End Times: Elites, Counter-Elites and the Path of Political Disintegration, 2023

Unabhängiger Journalist

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