Juncker, ein ehrlicher Lügenbaron

Mit der Wahl Jean-Claude Junckers zum Spitzenkandidaten für die EU-Parlamentswahlen haben die europäischen Christdemokraten einen Mann auf den Schild gehoben, der – wie andere auch – routinemäßig die politische Lüge einsetzt; doch anders als die anderen bekennt sich Juncker offensiv zur Täuschung der Öffentlichkeit – manchmal wenigstens. In seinen Anfällen von Ehrlichkeit unterscheidet er sich von so manchen anderen Politikern, die derlei nicht einmal in “schwachen Stunden” über die Lippen bringen würden.

Die berühmteste Aussage Junckers zu diesem Thema ist schon mehr als zehn Jahre alt, sie charakterisiert aber wie keine andere das üble Spiel, das “demokratisch gewählte Politiker” mit ihren Wählern treiben. Das Zitat lautet folgendermaßen:

“Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert (…) Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.” Spiegel 52/1999

Was Juncker hier sagt, hat weder etwas mit seiner Weltanschauung noch mit seiner Person zu tun. Es beschreibt das allgemeine Prinzip, nach dem die EU-Politik funktioniert – und funktionieren muss – wenigstens so lange es Mehrheiten gegen die Ziele der regierenden Berufspolitiker gibt.

Viele seiner politischen Gegner agieren nach dem gleichen Grundsatz. Sie hüten sich nur davor, es öffentlich zu sagen. Das Einzigartige an Juncker ist, dass er die Unwahrheiten im Abstand von jeweils ein paar Jahren ehrlich zugibt bzw. zwanghaft zugeben muss. Warum das so ist, weiß keiner.

 Die Lügen scheinen auch nichts mit dem in der Poltik branchenüblichen Schwindeleien zu tun zu haben. Die Euro-Lügen haben Methode, eine, die sogar einen eigenen Namen hat. Dieser lautet “Méthode Monnet”. Sie wird im 7. Kapitel meines Texts näher analysiert, das in den nächsten Wochen auf diesem Blog veröffentlicht wird.

Bei der Méthode Monnet handelt es sich – vereinfacht gesprochen – um eine Art Guerillakampf von politischen Funktionären, die glauben, einen besseren “Durchblick” zu haben als der unverständige Normalbürger und die daraus das Recht ableiten, unmoralisch handeln zu dürfen – schließlich passiert das nur zum Besten des Volks.

Ihr Herzstück besteht darin, dass Regierungspolitiker in geheimen Absprachen Handlungen setzen, deren Folgen nicht mehr rückgängig zu machen sind, auch nachdem die Entscheider schon lang aus dem Amt ausgeschieden sind. Mit dieser Geheimpolitik werden bewusst “Sachzwänge” geschaffen, die die Bevölkerung der Mitgliedsstaaten auf Generationen verpflichten – meist ohne dass die Völker wissen, dass überhaupt eine solche Entscheidung ansteht. Es ist, als würde ein Treuhänder ohne Absprache mit seinem Auftraggeber eine wichtige Weichenstellung vornehmen und sich damit ausreden, sein Treugeber verstehe von der Sache ohnehin nichts.

Die Grundlage dieser Politik sind „im Konsens getroffene Elitenentscheidungen”, wie das ein Kenner der “Méthode” ausdrückt. Praktisch alle EU-Fraktionen einschließlich der europäischen Liberalen und Grünen handeln auf diese Weise.

Es ist aber wiederum nur Juncker, der das zugibt. 2011 sagt er in einer Podiumsdiskussion:

 “Ich bin für geheime Beratungen unter einigen wenigen Verantwortungsträgern.” “Wenn es erst wird”,  fügt er hinzu, “musst du lügen.”

 Juncker spricht dabei von einer speziellen Situation, in der sich vor allem die EU-Finanzminister oft befinden – sobald sie nämlich vor einer Entscheidung stehen, von der die Finanzmärkte betroffen sind. Wenn diese den Beschluss vorzeitig spitz bekommen, können sie sich den negativen Folgen dieser Entscheidung entziehen – zu Lasten der Allgemeinheit.

Das ist ein altes Argument, das schon in den 1990er-Jahren benutzt wurde. Dabei wird nahegelegt, als handle es sich in der Mehrzahl der Fälle um erlaubte Notlügen. Der frühere deutsche Finanzminister Theo Waigel pflegt als Beispiel Entscheidungen anzuführen, die die EU-Finanzminister während des sogenannten ersten Wechselkursmechanismus treffen mussten. Bei oft am Wochenende durchgeführten geheimen Treffen beschlossen die EU-Finanzminister an dem Mechanismus teilnehmende einzelne Währungen abzuwerten.

Wäre das vorzeitig bekannt geworden, hätte dies zu massiven Spekulationen zu Lasten der Benutzer dieser Währungen geführt. Waigel will in seiner Gewissensnot sogar den späteren Papst Benedikt XVI gefragt haben und dieser soll geantwortet haben, der Politiker dürfe in dieser Situation gar nicht die Wahrheit sagen. Es sei keine Sünde zu behaupten, er würde am Wochenende wandern gehen, obwohl er doch an einem Ministertreffen in Brüssel teilnehme.

Vielleicht hat Kardinal Ratzinger das gesagt und wenn, dann wird sich das mit der katholischen Lehre schon decken – Ratzinger war ja nicht von ungefähr Chef der Glaubenskongregation. Das konkrete Verhalten in dieser konkreten Situation ist auch nicht anstößig oder umstritten. Es gibt niemanden, der dafür nicht Verständnis hätte.

Freilich geht es in der großen Mehrzahl der Fälle gar nicht darum. “Die Finanzmärkte” ist eine Nebelgranate, die das eigentliche Ziel der systematischen Lügerei verschleiert. Das wahre Anliegen besteht darin, Entscheidungen gegen den Willen der Mehrheit zu treffen, ohne dass diese das mitbekommt und sich erhebt.

Entscheidungen wie die über die Einführung des Euro im Jahr 1998, die noch Waigel bzw. sein damaliger Chef Helmut Kohl getroffen haben. Ein Beschluss gegen eine massive Mehrheit in Deutschland. Dessen waren sich die handelnden Politiker völlig bewusst, wie Kohl ein Paar Jahre danach in einem Interview für eine Dissertation zugab:

Ich wusste, dass ich ein Referendum in Deutschland nie gewinnen könnte (…) Wir hätten eine Volksabstimmung über die Einführung des Euro verloren. Es ist ganz klar, dass wir mit 70 zu 30 verloren hätten.“

 

Unabhängiger Journalist