Menschenfluten ohne Karbon

human_tide_coverDer englische Demograph Paul Morland liefert eine für Nicht-Spezialisten äußerst aufschlussreiche Darstellung der “Bevölkerungsexplosion” der vergangenen 200 Jahre. Die Verachtfachung der Welt-Population bis heute ist ein zyklischer Prozess, den Britannien und Kontinentaleuropa zuerst und schließlich die sogenannte Dritte Welt durchlaufen – mit der letzten Station subsaharisches Afrika, das gerade erst mit seiner big transition begonnen hat. Leider wird den “fossilen” energetischen Grundlagen nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt.

Das mag daran liegen, dass Morland kein Wirtschaftshistoriker ist, oder auch daran, dass für ihn, den Demographen, der Hauptgegenstand seines Faches ein Faktor sui generis, sozusagen ein Erstbeweger ist.

Oder es ist primär darauf zurück zu führen, dass es heute, in den Zeiten der CO2-Hysterie, nicht opportun scheint, Kohle & Öl historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Vielleicht ist es für Bevölkerungswissenschaftler ein alter Hut  – aber der Umstand, dass die erste menschliche Flutwelle, die über den Planeten schwappte, eine war, die aus Engländern, Iren und weißen Kontinentaleuropäern bestand, verdient Beachtung. Und dass diese in mancher Hinsicht heutigen Migrantenströmen ähnelte.

Die europäische Bevölkerungsexplosion begann um 1800 – gerade als Thomas Malthus das exponenzielle Wachstum der Unterschichten voraussagte – und die seiner Meinung nach unausweichliche Ernährungsmalaise, die sich daraus ergeben würde.

Schon diese erste Bevölkerungsexplosion kam nicht – wie man annehmen könnte – aus einer erhöhten Fortpflanzungsfreude, nein, sie rührte aus einer rasch sinkenden Sterblichkeit, speziell von Säuglingen & Babys.

Aber auch die Alten und Älteren wurden immer älter. Die Geburtenrate pro Frau nahm laufend ab – besonders stark ab 1950/1960 (bei den Europäern allgemein, nicht nur den Engländern).

Bis dahin variierte eben dieses Muster in der “Ersten Welt”, sodass beiepielsweise die Deutschen im 19. Jahrhundert ein demograpisch-ökonomisches Profil entwickelten, das das britische Empire gefährdete:

What was happening in Germany was no more than a later replay of what had already happened in the UK. Twenty-five million Germans in 1800 became 40 million by 1870–an annual average rise of about two-thirds of one per cent–and 67 million by 1913, an annual average rise that was almost twice as fast . By the middle of the nineteenth century, the land of poets and thinkers was turning into the land of blood and iron, not to mention steel and coal.”

Die Deutschen erstarkten militärisch und ökonomisch das gesamte Säkulum hindurch (welche Folgen das im 20. Jahrhundert hatte, soll hier nicht extra thematisiert werden).

Bevölkerungsexplosion der “Entwicklungsländer”

Mitte des vergangenen Jahrhundert wiederum, nach dem Zweiten Weltkrieg, setzten viele “Entwicklungsländer” zu Entkolonialisierung und eigener Bevölkerngsexplosion an.

Zuerst (und schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg) kamen das kaiserliche Japan sowie China und Ostasien, gefolgt vom Nahen Osten und Nordafrika, Lateinamerika und Südasien (Indien).

In diesen Weltgegenden, sagt Morland, nimmt gegenwärtig die Fruchtbarkeit ab, teilweise rapid – hat aber noch lange nicht das inferiore europäische oder japanische Niveau erreicht

Auch mit “Disruptionen”, größeren Brüchen in der Entwicklung des Schwarzen Kontinents wird nicht wirklich gerechnet.

Die letzte Grenze (“final frontier”) bildet Afrika unterhalb der Sahara, das während des ganzen 21. Jahrhunderts noch stark wachsen werde, wie zu erwarten sei:

Africa south of the Sahara as a whole is in the early stage of the demographic transition, with persistently high fertility, life expectancy still low but lengthening fast, meaning more births, fewer deaths and a ballooning population. And so it is here that the demographic whirlwind is now at its most intense.

It is certainly striking to realise that in the continent as a whole in 1950 there were far less than half as many people as there were in Europe, a fact all the more striking when you realise that Africa is three times the size of Europe. Today, Africa’s population is around a third larger than Europe’s, and by 2100 it is likely to have quadrupled again, while Europe’s will have shrunk.”

Die Zukunft, glaubt Morland daher, werde “brauner”, “grüner” und “grauer” sein – ökologischer, weil der Bevölkerungsdruck auf die Umwelt abnehmen werde und greying, weil die heute “jungen Völker” in zwei Generationen so alt sein würden wie gegenwärtig die Europäer oder Japaner.

Deswegen, prophezeien wiederum andere, steuere die Weltbevölkerung auf einen Kollaps zu, die Erde drohe zu einem “Empty Planet” zu mutieren.

Die Tugenden von Kohle & Öl

Linear-Extrapolation wie diese ist nicht unbedingt Morlands Sache – aber der Demograph vergibt in seiner Human Tide eine beträchtliche Chance – die Gelegenheit zu erklären, warum die Menschheit just an diesem historischen Punkt der “malthusianischen Falle” entkommen ist, in der sie zuvor über viele Tausend Jahre gefangen war. 

Entscheidend waren nach Ansicht dieses Bloggers die Industriellen Revolutionen, bzw. deren unverzichtbare Voraussetzumg: das Nutzbarmachen von Kohle, Öl und Gas. Das erzeugte eine historisch einmalige Energie-Bonanza, die Vaclav Smil und mit ihm Gail Tverberg in diesem Graph darstellt:

world-energy-consumption-1820-to-2010-with-logo
Quelle: https://ourfiniteworld.com/

Erst diese “neuen” Energieträger  (und Rohstoffe) ermöglichten

  • eine explodierende Arbeitsproduktivität in den neuen Fabriken,
  • eine explodierende Flächenproduktivität in der Nahrungsmitttelproduktion (Haber-Bosch-Verfahren, landwirtschaftliche Mechanisierung) und
  • eine Urbanisierung, die im Lauf von Jahrzehnten mehr Gesundheit & Lebenschancen geschaffen hat  (z.B. durch Wasser-/Abwassersysteme aus Gußeisen und Steingut);

insgesamt also bessere Ernährung und Public Health, die die Sterblichkeit der Städter senkten und deren Lebenserwartung steigen ließen.

Im 20. Jahrhundert schließlich ermöglichten fossile Energieträger die “Globalisierung” zunächst der Wirtschaft – siehe dazu Smils Prime Movers of Globalization zu Diesel-Motoren und Düsenantrieben für Flugzeuge;

was englische und schottische Techniker für die Erste Industrielle Revolution 1750 bis 1850 waren, waren deutsche und amerikanische Ingenieure für diese spätere Ära.

Vielen dieser Technologien würde heute die Grundlage fehlen,  wenn – aus welchen Gründen immer – keine konzenrierten Treibstoffe mehr verfügbar wären.

Paul Morland, The Human Tide: How Population Shaped the Modern World. 2019

Unabhängiger Journalist

Comments are closed, but trackbacks and pingbacks are open.