Österreich: 90 Jahre Schattendorf – Eine Bilanz aus heutiger Sicht

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Tatwaffe von Schattendorf

In der ersten österreichischen Republik hat vor 90 Jahren ein Urteil über einen politisch motivierten Totschlag zu Unruhen geführt, deren mittelbare Folge die Auslöschung der Eigenständigkeit des 1918 neu geschaffenen Kleinstaats war. 2017 fürchten die Enkel der früheren Todfeinde, dass die nun herbeigesehnte Vernichtung der politischen Selbstbestimmung in letzter Minute verhindert werden könnte.

Das Dritte Lager, das inzwischen gewohnheitsmäßig als Nachfolger der damaligen Nationalsozialisten diffamiert wird, ist dagegen die einzige (relevante) politische Kraft, die der schleichenden Liquidierung des parlamentarisch-demokratischen “Nationalstaats” Widerstand entgegensetzt und auf dessen Parlamentssouveränität pocht.

So etwas nennt sich wohl Ironie der Geschichte.

Ganze Bibliotheken sind über die Tragödie der Ersten Republik im allgemeinen und viele Stellmeter über die Ereignisse im burgenländischen Schattendorf, den daraus resultierenden Prozess und den Justizpalastbrand in concreto geschrieben worden.

Hier ein paar Stichworte zum sozusagen aktuellen Gedenk-Thema – um in die Gänge zu kommen:

Am 30. Jänner 1927 kam es in einem Kaff im Bezirk Mattersburg zu einem Zusammenstoß zwischen einer rechten Frontkämpfervereinigung und der zahlenmäßig überlegenen sozialdemokratischen Miliz (“Schutzbund”).

Dabei erschossen die Frontkämpfer zwei Unschuldige – einen kriegsinvaliden Sozialdemokraten und einen sechsjährigen Schulbuben.

Den mutmaßlichen Schützen wurde im darauf folgenden Juli ein Prozess gemacht, bei dem die Geschworenen “im Zweifel” Freisprüche fällten – Laienrichter, die eigentlich Eckpfeiler der justizpolitischen Vorstellungen der oppositionellen Sozialdemokratie waren.

Das Urteil empörte die Basis (und den sozialdemokratischen Parteiapparat), die darin einen Fall von Klassenjustiz sahen. Am 15. Juli versammelte sich eine aufgebrachte Menschenmenge vor dem Wiener Justizpalast (in dem eigentlich fast nur Zivilrechts-Fälle behandelt wurden).

Radikale Demonstrationsteilnehmer steckten das Gebäude in Brand. Die Polizei eröffnete daraufhin das Feuer, was im Tod von 89 Demonstranten und Hunderten Verletzten gipfelte.

Diese Ereignisse sollen die bürgerkriegsähnlichen Vorgänge des Februar 1934 wesentlich vorbereitet und das Verhältnis zwischen regierenden Christlichsozialen und oppositioneller Sozialdemokratie endgültig zerrüttet haben.

Das wiederum, so die offizielle Geschichtserzählung weiter, habe es den Nationalsozialisten in Deutschland erleichtert, 1938 den kleinen Nachbarstaat im Süden zu “schlucken”.

***

Trotz der zentralen Rolle, die den Ereignissen des Jahres 1927 zugebilligt wird, scheint es in der hiesigen Geschichtswissenschaft jahrzehntelang niemand für wert befunden zu haben, sich durch wesentliche Archivalien, etwa das Protokoll des Schattendorf-Prozesses zu wühlen und es auszuwerten.

Dagegen scheinen sich die Herren und Damen Professoren und Dozenten auf eine Lesart verlassen zu haben, wie sie nach dem Justizpalastbrand medial verbreitet wurde, speziell in der Arbeiter-Zeitung, dem sozialdemokratischen Parteiorgan.

Wenig überraschend urteilt eine (nicht habilitierte) jüngere Historikerin in einem kürzlich erschienenen Buch:

Diese Beispiele zeigen, dass man selbst nach der Aufhebung der Archivsperre, als der Akt des Schattendorfer Prozesses in vollem Umfang einsehbar war, die Quellen negierte und an ihrer Stelle von anderen Autoren abschrieb, entweder aus Bequemlichkeit oder weil dies der vorgefassten Meinung zupass kam  Das Ergebnis ist eine vielfach verkürzte, verfälschte und parteipolitisch tendenziöse Darstellung.” (Walterskirchen, 50)

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Wie sonstwo auch, hat offenbar auch in diesem Fall eine Krähe der anderen kein Auge ausgehackt und die allgemeine Journaille des Landes fühlte und fühlt sich schon gar nicht berufen, ihren Finger in diese schwärende Wunde zu legen.

Von einer Ausnahme abgesehen, dachte das Medienkartell auch beim Buch der Walterskirchen, es würde ausreichen wegzuschauen und zu schweigen, nach dem bewährten Motto: Was nicht in der Zeitung gestanden ist (rezensiert wurde), hat nicht stattgefunden.

Das ist in Zeiten des Internet natürlich Unsinn – auch wenn man Nonkonformes als Verschwörungstheorie zu brandmarken versucht oder Schwerpunktausgaben zum Thema Wahrheit druckt.  :-P   

Die Zeitung mit der Sonderausgabe zur Wahrheit war immerhin die einzige, die Walterskirchens jüngstes Buch wahrnahm (vom eigenen Leibblatt, der Presse, einmal abgesehen).

Diese Wahrnehmung geschah in einer kritischen Rezension, in der festgestellt wurde, dass die Autorin den Roten nur den Braunen Peter zuschieben wolle (wonach man ansatzloslos die fehlende Erwähnung von “schwarz-braunen Beziehungen” bemängelte).

Was findet sich nun in den Blinden Flecken, was so einen Vorwurf rechtfertigen könnte (der nicht auf die leichte Schulter zu nehmen ist – der Standard weiß, wovon er spricht, ist er doch Experte im Brauner Peter-Spielen)?

Es ist die Überzeugung der Walterskirchen, dass der glorifizierte Arbeiteraufstand des Jahres 1934 eigentlich ein Putschversuch von Teilen des Schutzbunds war, der dabei von den Nationalsozialisten jenseits der deutsch-österreichischen Grenze unterstützt/instrumentalisiert wurde.

Das ist aufgrund der Umstände (grenzüberschreitende Destabilisierungspolitik der Nazis, personelle Berührungspunkte) alles andere als absurd, oder besser: absurd mag es höchstens Leuten anmuten, die der Meinung sind, die Zeitgeschichtsforschung der vergangenen 70 Jahre habe tatsächlich nach dem Motto sine ira et studio agiert.

Walterskirchen gründet diese ihre Überzeugung im Wesentlichen auf

Die zugrundeliegende Frage sollte nach 80, 90 Jahren eigentlich längst historisiert sein und gebieterisch nach einer möglichst nüchternen Beurteilung der Quellenlage verlangen.

Das freilich scheint aus zwei Gründen gar nicht zu gehen – aus dem macht- und parteipolitischen, dass der Betrachter gefälligst Rücksicht auf die Schamteile der SPÖ nehmen soll;

und dem normativ-wissenschaftssoziologischen, dass das werte Publikum doch bitte über das Versagen zweier Historiker-Generationen hinwegzublicken habe.

Gudula Walterskirchen, Die Blinden Fecken der Geschichte. Österreich 1927 – 1938, Wien 2017. 22,90 Euro (Öst.)

Bild: Pappenheim via Wiki Commons.

Unabhängiger Journalist

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