Progressive Gewalt: W. Scheidels Geschichte der Ungleichheit

Cover LevelerWalter Scheidel ist, was man als  Polyhistor bezeichnen würde, gäbe es so etwas heute noch. Im zarten Alter von 50 hat er jetzt einen Parforceritt durch die Geschichte der Ungleichheit vorgelegt. Im Great Leveler, dem großen Gleichmacher, untersucht er den Zusammenhang von Kataklysmen und sozialer Ungleichheit, vom Menschenaffen bis vorgestern. Der geborene Österreicher, der heute in Stanford lehrt, muss speziell für progressistische Zeitgenossen schwer auszuhalten sein.

Zwar spricht er sanft und mit dem Wortschatz des liberalen Eierkopfs von der Westküste, aber er trägt für seine peers auch einen großen Knüppel mit sich, ideologiehalber.

Natürlich ist nichts an seinen Diagnosen ideologisch – alles Gelehrsamkeit & reine Fakten, basierend auf zehn Jahren Arbeit und Hunderten wissenschaftlichen Texten. :mrgreen:

Irgendwie scheint es dem Mann aber Freude zu bereiten, den roten Faden, der sich für viele durch die Menschheitsgeschichte zieht, durcheinander zu bringen und die säkuläre Heilsgewissheit unserer gauchistischen Doxa zu erschüttern.

Die zentrale These seines Buchs besteht darin, dass in der bekannten Menschheitsgeschichte vier Reiter, “apokalyptische” nämlich, für die (relativ) kurzen Episoden abnehmender Ungleichheit verantwortlich zu machen seien;

als da wären: (1) Seuchen, (2) Staats- und Systemzusammenbrüche, (3) Kriege mit Massenmobilisierung und (4) systemtransformative Revolutionen.

Beim Rest ist die Faktenlage uneindeutig bzw. in Summe auf mehr wachsende inequality hindeutend.

Also z.B. während der präindustriellen Raubkriege, die Imperien oder auch nur Adelsverbände geführt haben und die darin mündeten, fremde Territorien zu unterwerfen und auszubeuten. Das Prädikat ist hier eindeutig: ungleichheitserhöhend.

Nennenswerte Ungleichheit konnte freilich erst mit der “neolithischen Revolution” entstehen, weil die Jäger und Sammler über Hunderttausende Jahre an der Substistenzgrenze lebten und es schlicht keine Überschüsse gab, die sich die Starken “aneignen konnten”.

Vier apokalyptische Reiter

In der Geschichte jedenfalls tendierte (innergesellschaftlicher) Friede wenigstens dazu, “die Reichen reicher zu machen” – siehe z.B. die letzten zwei Jahrhunderte des Römischen Imperiums, als alter Adel und neue kaiserliche Eliten immer mehr an sich raffen konnten.

Bis es (in Europa) im fünften Jahrhundert krachte und das weströmische Imperium kollabierte.

Das fiel mit dem “fast gleichzeitigen” ersten epidemischen Auftreten der Beulenpest zusammen.

Man könnte sagen, dass in diesem ungemütlichen Zeitalter gleich zwei der Scheidelschen apokalyptischen Reiter tätig waren: Staatszusammenbruch und Seuche.

Dieser Umstand hatte jedenfalls eine Jahrhunderte andauernde “Verringerung der Ungleichheit” vulgo: Krise des Frühmittelalters zur Folge (passenderweise gab es eine der periodischen, alle 200 Jahre auftretenden Kälteperioden).

Doch etwa ab dem 9. Jahrhundert ging’s wieder aufwärts. Das “Volk” wurde wieder zahlreicher, das Klima besser und die Ungleichheit stieg – durch’s ganze Hochmittelalter hindurch.

Bis ins 14. Jahrhundert.

1347 rollte der Schwarze Tod durch Europa und raffte in Extremfällen die Hälfte der Bevölkerung eines Landstriches weg.

Das wirkte gleich in mehrfacher Hinsicht gleichheitserhöhend, auch für die überlebenden hoi prolloi, deren Arbeitskraft mehr wert wurde.

Ein Leben war in diesen Zeiten nicht viel wert, unabhängig vom jeweils aktuellen Gini-Koeffizienten. Ob das so weit ging, wie in dieser drastischen Monty Pythons-Szene, sei dahingestellt:mrgreen:

Ab der Mitte des 15. Jahrhunderts ging’s wieder bergauf, auch mit der Ungleichheit, wie z. B. in einer typisierenden Grafik “Inequality trends in Europe in the long run” gezeigt wird.

Die sozioökonomische Ungleichheit wuchs und wuchs, trotz immer wieder auftretender Pest und ständiger bewaffneter Konflikte – und selbst von der Levée en masse der Koalitions- und Napoleonischen Kriege unbeirrt.

Gewalt und das “gleichere 20. Jahrhundert”

Bis ins 20. Jahrhundert, zum 1. Weltkrieg.

Mit ihm begann, was Scheidel die Great Compression, die Große Stauchung nennt, nämlich des Gini-Koeffizienten, des Maßstabs der Ungleichheit. Besonders abrupt fiel der Rückgang der Ungleichheit in Japan ab den 1930ern aus.

Die tieferen Gründe dafür liegen in der Kriegswirtschaft: im stärkeren steuerlichen Zugriff der belligerenten Staaten auf die Reichen (Einkommen, Erbschaft) und ihrem Bemühen, ja der Notwendigkeit, gegenüber der für die Schlacht mobilisierten, armen Masse soziale Fairness zu demonstrieren.

In vielen Fällen wurde auch das Vermögen der Elite physisch zertört.

This quick survey shows that although the precise means of leveling differed between countries, overall outcomes were similar. Low savings rates and depressed asset prices, physical destruction and the loss of foreign assets, inflation and progressive taxation, rent and price controls, and nationalization all contributed to varying degrees.”

Scheidels Ausschilderung gilt im Kern für das gesamte Zeitalter der beiden Weltkriege, das auch die Depression und die kommunistische Revolution in Russland beinhaltet (insofern kann man auch hier vom gleichzeitigen Auftreten zweier apokalyptischer Reiter sprechen).

Die Kriege wirken bis in die 70er/80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts nach, weil bis dahin die Strukturen der Kriegswirtschaft erhalten blieben bzw. weil diese sich in welche von Wohlfahrts- bzw.Steuerstaaten verwandelten.

Gefördert wurde diese (“westliche”) Entwicklung vom Kalten Krieg und der Systemkonkurrenz mit dem Ostblock.

Mass leveling was born of mass violence—as well as the fear of future mass violence on an even vaster scale. The postwar expansion of the welfare state on both sides of the Iron Curtain may have been influenced by competition between the West and the Soviet bloc. More specifically, the development of income inequality in eighteen Western countries from 1960 to 2010 was constrained by the Cold War: controlling for other factors such as top marginal tax rates, union density, and globalization, the Soviet Union’s relative military power was negatively and very significantly correlated with national top income shares.”

1914 und 2014: Zweierlei Vermögen

Seit den 1980er-Jahren steigt die Ungleichheit in der industrialisiertenWelt aber wieder an, sagt Scheidel – und in jüngster Vergangenheit seien sogar neue Höchststände erreicht worden, z.B. in den USA.

In 2012, inequality in the United States even set several records: in that year, top 1 percent income shares (both with and without capital gains) and the share of private wealth owned by the richest 0.01 percent of households for the first time exceeded the high-water mark of 1929.”

Metriken wie dem Gini-Koeffizienten sei aber nicht zu trauen, gibt Scheidel gleich zu Protokoll. Wahrscheinlich werde die in diesen sichtbare Ungleichheit noch unterschätzt.

Mag sein, was die Einkommensungleichheit betrifft (obwohl ich mir da nicht so sicher bin, denn Einkommensströme – vom Lohn bis zur Dividende – werden alle mit demselben Maßstab gemessen, den Währungen – und sie haben alle dieselbe Kaufkraft für die Güter des täglichen Bedarfs.)

Ein anderes paar Schuhe ist imo die Ungleichheit bei den Vermögen, die real möglicherweise viel weniger ausgeprägt ist als oft angenommen..

Der Grund dafür ist einfach, aber umständlich zu erläutern:

Im Zentrum steht das Faktum, dass heutige Vermögen nicht mit den Vermögen von 1914 vergleichbar sind.

Aus immer mehr Kredit entstehende financial assets (“Papiervermögen”) spielen heute eine viel größere Rolle als damals – wenn man sie etwa mit den Immobilien vergleicht.

Financial assets jeder Art sind aber die Lieblings-Vermögensklassen derjenigen, die meist als “Elite” bezeichnet werden – in der “breiten Masse” sind sie dagegen krass unterproportional verbreitet.

Die ungleich (und ungerecht) verteilten Finanzvermögen unterliegen jedoch spätestens seit 1971 einer ständigen asset inflation, vulgo: einem quasi-automatischen “Wertzuwachs”.

Eine solche Vermögensinflation gibt es zwar auch bei “real estate” – diese fällt gegenüber Rentenwerten, Fondsanteilen und Aktien aber immer weniger ins Gewicht.

Selbst genutzte Immobilien sind noch heute der typische Vermögensgegenstand von “Normalsterblichen” (und vielleicht ein Sparbuch mit einem kleineren Betrag, das durch den Nullzins inzwischen “wertlos” geworden ist).

Der Löwenanteil der Vermögen der oberen 1,0 bzw. 0,1 Prozent steckt aber in Finanzwerten. Und die wachsen über Generationen deutlich schneller als Produktivtät und Löhne.

Dank der Zentralbanken.

Walter Scheidel, The Great Leveller.Violence and the History of Inequality from the Stone Age to the Twenty-frist Century. Princeton, 2017

Unabhängiger Journalist

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