Die ím Vereinigten Königreich anstehenden Parlamentswahlen könnten die seit Ende des 2. Weltkriegs bestehende Parteienlandschaft radikal umkrempeln. Von John James.
Zu den Entwicklungen am Montag: The Guardian, EU verlängert Frist / EU grants extension
Seit meinem Kommentar in der letzten Woche gab es im High Level-Schachspiel des Brexit einige wichtige Züge, sodass sich die Situation heute etwas klarer darstellt.
Insbesondere zwei Entwicklungen sind von Bedeutung.
Zuerst wurde berichtet, dass Macron mit Johnson gesprochen hat und dieser ihm sagte, dass er kein Veto gegen eine Verlängerung einlegen oder eine nur kurze Verlängerung durchsetzen könne. Er sei der einzige Führer in der EU, der bereit sei, eine solche Entscheidung zu akzeptieren, und sei daher zu isoliert.
Zweitens haben zwei Parteien im britischen Parlament ihre Opposition gegen Neuwahlen aufgegeben. Diese Parteien sind die Liberaldemokraten (LibDem) und die Scottish National Party (SNP).
Macrons offizielle Entschuldigung für die Ablehnung einer Verlängerung am vergangenen Freitag war, dass er auf eine Entscheidung des britischen Parlaments über Neuwahlen warten habe wollen.
Durch ihre grundsätzliche Zustimmung zu den Wahlen Anfang Dezember haben sich SNP und LibDems der französischen Position angenähert. Aufgrund dieser Einstellungsänderung erklärte sich Frankreich bereit, die Frist bis zum 31.01.2020 zu verlängern.
Diese Ausdehnung unterliegt allerdings strengen Auflagen.
Frankreich forderte die EU auf, offiziell keine weitere Verlängerung mehr zuzulassen und klar zu machen, dass es auch keine Verhandlungen über ein drittes Abkommen mehr geben werde. Sogar Guy Verhofstadt, der fanatischste Gegner des Brexit, akzeptierte, dass dies die letzte Verlängerung sein würde.
Dies bedeutet, dass Großbritannien nur mehr eine „binäre Wahl“ hat.
Es ist klar, dass es im Unterhaus keine Mehrheit für einen No-Deal-Brexit gibt, und Boris Johnson will auch keinen.
Entweder wird irgendwann bis zum 31. Jänner 2020 das Johnson-EU-Abkommen vom britischen Parlament ratifiziert oder dieses wird den britischen Antrag auf Austritt aus der EU zurückziehen, Dies würde bedeuten, dass das Vereinigte Königreich nach dem 1. Februar 2020 ein volles EU-Mitglied bliebe.
Warum haben Libdems und SNP Neuwahlen grundsätzlich zugestimmt?
Aus drei Gründen.
Erstens macht das Verhalten der Labour Party alle Remainer lächerlich, zweitens haben beide Parteien aufgrund des Verhaltens Labours eine wunderbare Gelegenheit, auf dessen Kosten an Stärke zu gewinnen.
Und drittens erklären beide Parteien unmissverständlich, dass sie das Ergebnis des Referendums von 2016 nicht respektieren.
Da das aktuelle Parlament aber auf Basis desVersprechens den Brexit durchzuführen gewählt wurde, können seine members den Antrag die EU zu verlassen nicht für null und nichtig erklären, zumindest nicht auf ehrbare Weise.
Nur ein neues Parlament mit Abgeordneten, die klar erkennbar das Ergebnis des Referendums von 2016 nicht beachten wollen, könnte ein Mandat des Wahlvolkes für eine „Remainer-Politik“ für sich beanspruchen.
Nun zur Labour Party.
Nach ihrer offiziellen Politik für die Wahlen 2017 wollte die Labour-Partei den Brexit durchsetzen.
Die Mehrheit der Labour-Abgeordneten ist aus persönlichen Gründen jedoch gegen den Brexit und in den vergangenen zwei Jahren ist ihr Wunsch diesen zu stoppen, gewachsen.
Parteiführer Jeremy Corbyn gilt als Befürworter des Austritts aus der EU.
Es ist plausibel, dass er die neoliberale EU als Hindernis für die Verwirklichung seiner Vision vom Sozialismus in einem Land ansieht, aber er hat seine Partei nicht unter Kontrolle.
Sein Brexit-Sprecher Keir Starmer ist ein ausgesprochener Globalist und führendes Mitglied der neoliberalen Trilateralen Kommission, die gegründet wurde, um die Harmonisierung der Regierungspolitik in Europa, Nordamerika und Ostasien voranzutreiben.
In der Labour-Elite gibt es zahlreiche „überlebende“ Tony Blair-Anhänger, die entschlossen sind, den Brexit zu stoppen. Es handelt sich um Leute, die Corbyn und seine Basis-Bewegung namens „Momentum“ hassen.
Diese Spaltung in der Labour-Partei hat zu absurdesten Widersprüchen in ihrer Politik geführt.
Noch vor einigen Wochen bestand die offizielle Labour-Politik darin, so bald wie möglich Neuwahlen zu fordern (in denen eine Labour-Regierung gewählt werden sollte).
Nach einem Wahlsieg würde Labour einen New Deal mit der EU aushandeln. Anschliessend würde die Labour-Regierung das Abkommen entweder dem Parlament oder möglicherweise in einem zweiten Referendum den Wählern vorstellen (ganz genau weiss es Labour noch nicht).
Führende Mitglieder von Labour wie Emily Thornberry, die wahrscheinlich Außenministerin einer von der Arbeiterpartei geführten Regierung wäre, erklärten im britischen Fernsehen offen, sie würden dafür eintreten, dass ein allfälliges neues Abkommen mit der EU in einem Referendum (oder vermutlich wenn nötig im Parlament) abgelehnt würde, um einen Brexit zu verhindern.
Als Johnson erklärte, er wolle am 31. Oktober einen No-Deal-Brexit durchführen, falls er keinen neuen Deal erhalten könne, änderte sich die Politik Labours umgehend.
Nun erklärte die Partei, dass sie nur dann Neuwahlen unterstützen würde, wenn klar wäre, dass es am 31. Oktober 2019 zu keinem No Deal Brexit kommen werde.
Als Johnson mit einem new deal aus Brüssel zurückkehrte, änderte sich die Labour-Politik erneut. Labour erklärte, es sei gegen den von Johnson ausgehandelten Vertrag – und auch wenn die EU eine Verlängerung der Frist gewähren würde, wäre es immer noch gegen die Abhaltung von Neuwahlen.
Nachdem die LibDems Neuwahlen grundsätzlich zugestimmt hatten, war die Labour-Partei gezwungen, ihre Position ein weiteres Mal zu ändern.
Ihre neueste Position ist, dass sie nur dann Neuwahlen akzeptieren werde, wenn Johnson einen No Deal Brexit am 31. Jänner 2020 ausschließe.
Die Labour-Partei hat sich in eine Sackgasse manövriert.
Es ist klar, dass ihre Ablehnung von Wahlen nicht grundsätzlich begründet ist, sondern in der Angst vieler Abgeordneter, bei Neuwahlen ihren Arbeitsplatz zu verlieren.
Sowohl die EU als auch Johnson sind sich einig, dass es am 31.01.2020 keinen No Deal Brexit geben solle.
Sie sind sich auch einig, dass der einzige Weg einen No-Deal-Brexit zu vermeiden, darin besteht, dass das aktuelle Withdrawal Agreement verabschiedet wird.
Die SNP und die LibDems wiederum sind sich einig, dass sie einen No-Deal-Brexit vermeiden wollen und dass Großbritannien den Brexit absagen und in der EU bleiben solle.
Die Wähler haben eine klare Wahl – aber Labour spielt dabei keine Rolle.
Im Gegenteil, Labour wurde von der Europäischen Union aufgegeben. Die EU hat klargestellt, dass sie kein drittes Abkommen mit einer neuen britischen Regierung aushandeln wird.
Dies widerspricht Labours Politik, ein weiteres Withdrawal-Abkommen auszuhandeln.
Der Vorsitzende des Brexit-Ausschusses im Europäischen Parlament, Guy Verhofstadt, sprach im September auf der LibDem-Parteikonferenz – aber keine Persönlichkeit von vergleichbarem Gewicht trat bei Labour auf.
Labour scheint den Weg aller sozialdemokratischen Parteien in Europa zu gehen. Die italienische und die französische Version existieren praktisch nicht mehr und die deutsche SPD liegt bei 10%.
In Österreich und Großbritannien sind die Soziialdemokraten in den Umfragen auf 20% gesunken.
Steht uns eine politische Neuausrichtung bevor?
In ganz Europa sind die neuen Grün-Parteien zu effektiveren Instrumenten für die supranationale und globalistische Politik geworden als die alten und strukturell unflexiblen Arbeiterbewegungen.
Aufgrund des britischen Wahlsystems wird die britische Grüne Partei bei den nächsten Parlamentswahlen jedoch keinen Erfolg haben.
Dies gibt der Liberaldemokratischen Partei eine einzigartige Chance.
Sie verkörpert den Großteil der Werte des neoliberalen Globalismus (durchlässige Grenzen, freier Kapitalverkehr und politisch korrekte Sozialpolitik).
In Zukunft fühlen sich Politiker wie Sir Keir Starmer in der Liberaldemokratischen Partei möglicherweise viel wohler als in einer geschrumpften linken sozialistischen Partei unter der Führung von Jeremy Corbyn.
Vielleicht werden die nächsten Wahlen in Großbritannien, wann immer sie stattfinden, den Beginn einer Neuausrichtung des Parteiensystems markieren. Die Unzufriedenheit mit dem Arrangement der britischen Politik seit dem Zweiten Weltkrieg ist unbestreitbar auf einem „all time high“
(Nachbemerkung: Bei der Niederschrift dieses Kommentars war nicht sicher, ob das Parlament für Neuwahlen stimmen würde. Ein einseitiger Antrag der Regierung Johnson wurde abgelehnt, aber es gibt einen Vorschlag der Liberaldemokraten, die Bestimmung, die im Fixed Term Parliaments Act eine 2/3 Mehrheit vorschreibt, durch einfache Mehrheit abzuändern. https://www.theguardian.com/politics/2019/oct/28/no-10-says-it-could-back-lib-dem-plan-for-9-december-election)
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