Der als konservativ geltende englische Publizist Douglas Murray geht in seinem neuen Buch auf die grotesken Übertreibungen des heutigen Radical chic ein und befürchtet, diese könnten Erfolge jüngerer “Bürgerrechtsbewegungen” diskreditieren. Der vielleicht gröbste Schnitzer des Autors ist der Titel, der suggeriert, das Geschwätz von Aktivisten & Nachplapperanten habe etwas “Volkstümliches”.
Der Humus, auf dem der geschilderte “Wahnsinn der Massen” gedeihe, sei das Ende der die bisherige Menschheitsgeschichte bestimmenden “großen Erzählungen” – der (christlichen) Religion und ihrer säkulären Nachfolger etwa, aber auch “der Wissenschschaft”.
Dort wo sich früher archaische oder moderne Metanarrative befunden hätten, hätten sich scheinrationale Ideologeme eingenistet, die von
- postmodernen, aktivistischen Teilen der Academia und des Staatsapparats unterstützt werden, und/oder von
- ungenannten Konformitäts-Extremisten in Big Tech. Diese menschlichen Akteure, oft Programmierer, veranstalteten eine Maskerade, in der Voreingenommenheit als neutral und daher unangreifbar paradiere (“machine learning fairness”). Wenn z.B. in Such-Ergebnissen zu “europäischer Kunst” überproportional viele Schwarze auftauchten oder in jenen zu “heterosexuelles weißes Paar” zahlreiche Bilder von gemischtrassigen homosexuellen Pärchen, handle es sich um einen Versuch Geschichte zu korrigieren, frei nach George Orwell: “Who controls the past controls the future. Who controls the present controls the past.”
Murray, der persönlich einen homosexuellen Lebensstil pflegt, “kennt seine Pappenheimer”, besonders natürlich die Schwulen-Aktivisten. Diesen oder besser: der für ihn zentralen Differenz von “gay” und “queer” ist das erste Kapitel seines Texts gewidmet
Gay, women, race, trans
Die nächsten Abschnitte beschäftigen sich mit Feminismus und Rasse (Antirassissmus).
In allen Fällen bekennt sich der Autor prinzipiell zu den Zielen der ursprünglichen Emanzipationsbewegungen – also zur rechtlichen Gleichstellung Homosexueller, der Gleichberechtigung der Geschlechter (“Feminismus der ersten und zweiten Welle”) sowie zum (schwarzen) civil rights movement a la Martin Luther King mit dessen Ideal der “Farbenblindheit”.
Das macht Murrays Einordung als “konservativ” wenigstens problematisch.
Um die heutige verrückte Situation zu bebildern, strapaziert Murray das Bild eines Zugs, der mit Volldampf in die Endstation einfährt – aber anstatt stehen zu bleiben noch beschleunigt, entgleist und dabei ein riesiges Unglück auslöst.
Seine Botschaft: Die drei genannten Bürgerrechtsbewegungen hätten – “im Westen” – gesiegt, ihr Triumph werde mit den Dramoletten zeitgenössischer Identitätspolitik jedoch frivol aufs Spiel gesetzt.
We face not just a future of ever-greater atomization, rage and violence, but a future in which the possibility of a backlash against all rights advances – including the good ones – grows more likely.”
Murrays viertes Kapitel ist “Transgender” gewidmet, einem Phänomen, über das heute noch wenig gewusst werde,
wo von interessierten Individuen aber lauthals Sicherheiten verkündet würden – unter dem Deckmantel von Expertentum, “Engagement” und bei zustimmender Berichterstattung einer weitgehend ahnungslosen Journaille.
Folge sei – im besseren Fall - Beihilfe zur Selbsttäuschung und – im schlechteren – eine zur irreversiblen chirurgischen Selbstverstümmelung (manchmal auch “nur” einer hormonellen); ausgeführt an jungen Körpern noch nicht erwachsener Menschen – “Pubertätsblocker” und “Transitioning” für Elfjährige.
Murray & Mackay
Das ist freilich nicht, was Murrays Titel nahezulegen scheint.
Die angeblich wahnsinnigen Volksmassen bestehen üblicherweise aus Eltern, die ihre Kinder (und sich selbst) gut geng kennen um zu wissen, dass Verstimmungen und Zuschreibungen für’s Unglücklichsein oft Launen und vergänglichen Lebensumständen geschuldet sind – Treibsand unter Entscheidungen von jahrzehntelanger Tragweite.
Diese Crowds sind nur in Ausnahmefällen derart ideologisiert verrückt.
Wahrscheinlich war Murray (oder sein Lektor) darauf erpicht, es Charles Mackay, einem der Aufklärung verpflichteten schottischen Journalisten des 19. Jahrhunderts nachzutun.
Der schrieb 1852 “Memoirs of Extraordinary Popular Delusions and the Madness of Crowds”, einen Wälzer, der sich mit spekulativen Manien der Neuzeit beschäftigt (“Mississippi Scheme”, “South Sea Bubble”, “Tulipomaia”)
- aber auch mit Alchemisten, Prophezeiungen, Hexenwahn und Spukhäusern – alles Glaubenssysteme, die sich mit einiger Berechtigung als “populär” charakterisieren lassen (was übrigens auch für den Wahn von holländischen Tulpenzwiebel-Investoren gilt ).
Das unterscheidet sich fundamental von zeitgenössischen LGBT-Eiferern, RadikalfeministInnen der vierten Generation, rassistischen Rassen-Aktivisten und deren akademischen Wurmfortsätzen.
Aber auch vom kalkulierten Konformismus jener, die in einer politisch korrekten Umgebung vorankommen wollen oder einer blinden Elternliebe, die dem Nachwuchs den jeweiligen Wunsch des Tages von den Augen abzulesen trachtet.
Douglas Murray, The Madness of Crowds. Gender, Race and Identity. 2019
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