Zur Öffentlichen Intimität Bordonis

NT_fari-exe_83.inddWarum lesen wir, was wir lesen? Im Fall der L’intimità pubblica war es wahrscheinlich meine Neugierde, was der Autor des State of Fear in a Liquid World – siehe auch hier – zur heutigen Angst zu sagen hat, die – wie dieser Blogger meint – v.a. aus den rollenden Angst-Kampagen unserer Seuchen-Protagonisten kommt. Da hab’ ich mich aber schön geschnitten. Mit Ausnahme einer beiläufigen Bemerkung spielt die paura del contagio, die es 2017 ja noch nicht gegeben hat, auch im neuen Bordoni keine Rolle. Dafür hat sich dieser Blogger in mühsamen Debatten über Moderne und Postmoderne verheddert, kriegte aber auch die Reize der “Kulturkritik” Bordonis vor Augen geführt.

Wahrscheinlich würde sich der Autor gegen einen solch ideologisch befrachteten Terminus wehren und vielleicht handelt es sich dabei primär um eine “Kritik”, die eigentlich Zygmunt Bauman zuerst angebracht hat.

Ich weiß es nicht und es interessiert mich, ehrlich gesagt, auch nicht sonderlich.

Der Fairness halber sei vorausgeschickt:

Das in Intimità pubblica ausgebreitete Kuriositätenkabinett der vergangenen 20, 30 Jahre ist keine “Zivilisationskritik im üblichen Sinn”, also nicht die Perspektive romantisierender Proto-Faschisten und auch keine konservative Schelte “demokratischer Massenkultur”

– obwohl die Topoi allesamt auch in den Texten der beiden genannten Autoren-Spezies eine große Rolle spielen könnten.

Und von “Kultur” kann nur im übertragenen Sinn die Rede sein, denn im Fokus steht eine Gegenwart,

in der sich die sg. Kultur aus wild zusammen gewürfelten “Objekten des Kulturkonsums” zusammensetzt.

Und “Kritik” ist zumindest teilweise als eine “im Sinn Kants” zu verstehen, als eine Vermessung, Auslotung, Bestimmung der Grenzen usw.

Der Verfasser ist Soziologe und begreift sich bis fast ganz zuletzt als distanzierter Wissenschaftler, der beschreibt und analysiert, aber keine Geschmacksurteile & und Vorhersagen abgeben möchte

(sein Blick richtet sich übrigens ausschließlich auf aktuelle menschliche Verhaltensweisen und deren “Würdigung” durch Gesellschaft & Institutionen).

Trotzdem kann B. nicht verhehlen, was er selbst von den von ihm geschilderten Phänomenen hält, etwa mit Begriffen wie Barbarisierung und Ent-Zivilisierung (die er gleichwohl quasi-wissenschaftlich als Ablöse des Realitäts- durch das Lustprinzip deutet).

“Postmoderne” Barbarei

Die Barbarisierung, die Bordoni meint, ist allerdings nicht jene der Nazis, auf die vor 90 Jahren die “Barbarei” der in die USA emigrierten marxistischen Frankfurter Schule gemünzt war (deren Vertreter von B. gern und ausgiebig zitiert werden).

Es handle sich heute – im Gegenteil – um Barbarisierung, Vereinzelung, Vereinsamung und Sinnentleerung, die sich im Zeitalter der Beliebigkeit, der Postmoderne und des Internets massenhaft einstellten

(einer Gegenwart, die Bordoni zusammen mit Bauman lieber als “liquide M.” denn als “Postmoderne” bezeichnet).

B. leitet deren Entstehung beginnend mit dem 17. Jahrhundert u.a. mit Roberto Esposito ab und sozialhistorisch Informierte wie dieser ihr Blogger einer zu sein beansprucht, sind versucht, an manchen Stellen,

Einspruch, Euer Ehren!”

zu rufen. Es würde freilich zu weit führen, hier an diesen Punkten herumzuharken.

In der Hauptsache thematisiert Bordoni in seiner “Kulturkritik der Gegenwart”

  • den frappierenden “Exhibitionismus”, den die Nutzer sozialer Medien heute an den Tag legen, verbunden mit dem Verschwinden der Privatheit (“intimità pubblica”, “mostra dell’intimità”. “dissoluzione del privato”);
  • den verzweifelten Versuch, im Cyberspace eine neue “communità” zu finden, Gemeinschaft, die bis vor kurzem nur analog zu haben war und die heute völlig verschwunden sein soll (Gemeinschaft war im 19. und 20. Jahrhundert vielfach national definiert).
  • die zeitgenössische “Singulär-Gesellschaft”, die keineswegs nur allgemein-abstrahierend zu verstehen ist. Sie besteht aus Singles & Lebensabschnittspartnerschaften, in ihr verschwindet die “traditionelle Freundschaft”, während neue Generationen-Modelle entstehen (auf der Basis einer impertinenten Langlebigkeit der Alten)
  • und natürlich den Popul(ar)ismus, den es zwar seit der Antike gegeben hat, in dessen “liquider Form” aber erst seit etwa 30 Jahren. Dieser Blogger hat einen etwas anderen Blick auf das Phänomen und sieht z.B. die Zerstörung der politischen Vernunft nicht als exklusives Merkmal einer speziellen Form demokratischer Politicos an und auch nicht, dass diverse Popos außerordentlich verlogen wären. Das ist freilich ein Punkt, an dem sich die Geister scharf scheiden. Mehr noch als vom Autor selbst trennt diesen Blogger von jenem italienischen Rezensenten, der vom 5. Kapitel Bordonis “getriggert wurde” und der den Text ausschließlich unter dem Aspekt seines “anti-rechtspopulistischen Kampfes gegen Berlusconi, Trump & Co” verhandelt. Der 75-Jährige wird wohl kaum protestieren, muss er doch froh sein, überhaupt noch wahrgenommen zu werden.
  • Im sechsten Kapitel schließlich wird über das Vorherrschen verkürzten Denkens gesprochen, über die Inaktualität des Gedächtnisses, die verlorene Sprache und eine Allesfresser-Kultur, die inzwischen zwar “entmassifiziert” wurde, die aber fragmentarisch, beliebig und irrelevant geworden sei. Im letzten Unterabschnitt über die künftige Schmetterlings-Menschheit, die Trägerin einer neuen Aufklärung, gehen mit dem alten Wissenschaftler endgültig die Essayisten-Gäule durch. Der zum Visionär Mutierte erwartet, dass die alten Wissenden (& Herrschenden, zu denen er sich wohl selbst zählt) zwar das Rederecht behalten, dass diese aber marginalisiert und systematisch der Lächerlichkeit preisgegeben würden; und dass die neuen Mutanten, die “autochthonen Eingeborenen des Interregnums” zwischen flüssiger Moderne und dem noch nicht eingetroffen seienden Neuen triumphieren würden; anmaßende Ignoranten & Inkompetente, die mithilfe von anekdotischer eigener Erfahrung (und “Dr. Google”) sowie auf Basis von Vorurteilen, Intuitionen und Hörensagen herrschen würden – bis sie eben von der umanità-farfalla abgelöst würden, deren Wissen vergänglich & leicht sei wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, gleichzeitig aber nicht oberflächlich und unendlich flexibel…

Summa Sociologiae Bordonii

“Ein verrückter Professor mehr”, ist in Wien aus einer Entfernung von Tausenden Kilometern geradezu zu hören.

Sei’s drum.

Vielleicht bleibt Carlo Bordoni noch genug Zeit, sich an diese Rolle zu gewöhnen – er, der “in besseren Jahren” Professor, Doktor, Direktor gar war    :mrgreen:    .

Vielleicht auch nicht.

Seine Öffentliche Intimität bleibt in all ihrer Unvollständigkeit ein scharfsichtiger zeitkritischer Text.

Dieses Buch ist in vielerlei Hinsicht die “Summa “eines Gelehrtenlebens

- wer freilich einen betagten italienischen Polit-Philosophen zur Pseudo-Seuche hören will, liest besser Agambens Where Are We Now?: The Epidemic as Politics.

Schade nur (oder Gott sei Dank), dass Bordoni sich nicht auf Energie – und Geldgeschichte eingelassen hat.

 

Carlo Bordoni, L’intimità pubblica. Alla ricerca della comunità perduta. 2021

Carlo Bordoni, State of Fear in a Liquid World. 2016

Zygmunt Bauman, Carlo Bordoni, State of Crisis. 2014

Unabhängiger Journalist

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