“Homo Sapiens Rediscovered” – Über die, die wir einmal waren

cover_homo_sapiens_redfiscovered_2023Ein englischer Archäologe berichtet in einem soeben erschienenen Buch über den Forschungsstand zur Entwicklung des Homo Sapiens bis zum Ende der letzten Eiszeit – ein nützlicher, nicht allzu ideologisierter Überblick für den interessierten Laien.

Der Autor, ein Archäologe an der nordöstlichen Uni Durham, ist Spezialist für das mittlere und jüngere Jungpaläolithikum ( ≠ Jungsteinzeit).

Der Fokus seines Texts richtet sich auf menschliche Aktivitäten zwischen etwa 50.000 vor der Gegenwart (“BP”) und dem Holozän, was man mit “Jäger & Sammler während des letzten Abschnitts der letzten Eiszeit” übersetzen könnte.

Dieser Blogger gibt zu, dass  er schon lange nach einem Buch wie diesem Ausschau gehalten hat, nämlich

  • eines für den interessierten Laien, der über die Grundzüge z.B. der Besiedlung der Welt durch den homo sapiens orientiert ist, der aber die laufenden Fachpublikationen weder verfolgt noch bewerten kann.
  • Ein Buch, das KEINE Rückprojektion aktueller Ideologien oder Lebenspraktiken ist, etwa einer bestimmten Form von Feminismus (“Jägerinnen und Sammler”) oder von jungen Fans einer “ausgeglichenen Work-Life-Balance”. Für derlei Hirnschüssler scheinen auch die eiszeitlichen hunter-gatherers viel “gechillt” und hauptsächlich Kinder großgezogen zu haben (in den Pausen, in denen ihnen grad kein Mammut vor die Speere gelaufen ist      :mrgreen:     ). Pettitte scheint mir dagegen Verfechter eines faktenbasierten No Nonsense-Approaches und einer unangemessenen Romantisierung abhold zu sein.zu sein.
  • Und drittens sollte der Verfasser (die Verfasserin) natürlich jemand sein, der bezüglich der laufenden wissenschaftlichen Publikationen “up to date” ist, was im vorliegenden Fall gewährleistet erscheint.

Ich wollte einfach ein lesbares und aktuelles “großes Bild” des homo sapiens (HS) während der ersten 90 Prozent der vergangenen, sagen wir: 100.000 Jahre

und Pettitte liefert ein solches, vielleicht ein wenig geschöntes

(während der tägliche Überlebenskampf unter harschen und manchmal harscher werdenden Umweltbedingungen thematisiert oder zumindest angedeutet wird,

spielen “Ressourçenkonflikte” zwischen Menschengattungen oder unterschiedlichen “bands” von HS keine Rolle – ebensowenig wie die Violenz innerhalb der “Steinzeit-Horden”).

Dieser Blogger kennt die zugrundeliegende archäologische Evidenz zu wenig um beurteilen zu können, ob das auf mangelnde Indizien für Gewalt zwischen den Gruppen zurückzuführen oder eine Darstellungsfrage ist – sozusagen “erzählerisch gebotenes Weglassen von weniger Wichtigem”.

Das erste Drittel des Buchs dreht sich NICHT allein um den aus Afrika kommenden HS, sondern auch um dessen Kontakt mit anderen humans (Neanderthalern, Denisova-Menschen).

Im westlichsten Teil Eurasiens sieht Pettitt anhand der Fundort-Datierung nur geringe zeitliche Überschneidungen mit den Neanderthalern (ca. 4.000 Jahre), weswegen der europäische HS die Neanderthaler weder ausgerottet haben, noch sich mit ihnen gemischt haben kann (jedenfalls nicht in Europa).

Kreuzungen fanden nach Meinung des Prähistorikers schon früher in (West)Asien statt und der Untergang der Neanderthaler erfolgte wohl wegen deren geringeren evolutionären Anpassungsfähigkeit (wie eher angedeutet wird).

Der homo sapiens setzt sich durch

So richtig in seinem Element ist der Autor aber erst ab etwa Kapitel 7, das die ersten Vorstöße des homo sapiens nach Europa thematisiert.

Pettitte ist eine Koryphäe, was den europäischen sg. Cro-Magnon betrifft, man darf aber davon ausgehen, dass er auch die Literatur über die Neanderthaler und andere Menschen-Spezies wie seine Westentasche kennt.

Es mag für den Laien interessant sein, die Abfolge der Kulturen von Proto-Aurigniaken bis zu Magdalenien-Steinzeitlern zu verfolgen – inklusive Veränderungen bei Steinwerkzeugen, Jagdpraktiken, neuen Werkstoffen, Kunstproduktion, religiösen Vorstellungen. Begräbnis-Usançen etc.

-  im Regelfall ist solch nicht ständig benötigtes und modifiziertes Wissen binnen weniger Monate aber schon wieder vergessen.

Bei Typen wie diesem Blogger bleiben dagegen Punkte wie die folgenden länger hängen (Liste grob unvollständig):

  • Der geschilderte Lifestyle unterscheidet sich krass von der späteren Sesshaftigkeit allgemein und heute im Besonderen. Die von Pettitt thematisierten Menschengruppen waren hoch mobil und mochten noch nicht an diversen, später gehäuft auftretenden Krankheiten und Pathogenen gelitten haben -  an anderen schlimmen Begleitumständen der altsteinzeitlichen condition humaine kann jedoch wenig Zweifel bestehen. An der verbreiteten Mangelernährung etwa in Form von zu geringer Kalorienzufuhr (“Hunger”) oder von Mineralstoff- und Vitamin-Defizienzen, z.B. Calcium; siehe dazu die Bemerkungen zu Zähnen paläolithischer Kinder. Dieser Rezensent würde sogar formulieren: “Die nicht-natürlichen Rahmenbedingungen des Lebens in der Altsteinzeit blieben über 50.000 Jahre ähnlich, egal ob Mammuts oder Wildpferde erlegt/geschlachtet wurden.” Das gilt auch für den (“erschlossenen”) Umstand, dass nicht mehr mobile Gruppenmitglieder wie zB Alte zurück gelassen wurden (werden mussten) und idR von wilden Tieren gefressen wurden (“their bones do not enter the palaeontological record”). Solche Fakten/Schlüsse laufen manchmal dem Meta-Narrativ des Autors zuwider, der sichtlich bemüht ist. seine Studienobjekte vom Image immer währender Rückständigkeit zu befreien. Das Urteil von der Kontinuität der Lebensumstände gilt übrigens WENIGER für die Klimageschichte dieses Zeitraums, in dem die Bedingungen in Europa zwischen “normal eiszeitlich” und extrem kalt & trocken bzw- lebensfeindlich (“LGM”)  schwankten. Pettitt leistet hier viel, indem er die Klimaveränderungen im letzten Würm-Abschnitt mit den Wanderungen der eiszeitlichen Megafauna und in weiterer Folge von deren Jägern in Zusammenhang bringt.
  • Ein ähnliches Thema ist die die extrem dünne Besiedelung (nicht nur) des westlichsten Eurasien während der letzten Eiszeit, die Pettitt wenigstens nicht ignoriert. Einmal gibt er den Wert von 0,1 bis 0,001 Personen pro Quadratkilometer an, was man mit etwa 500/km2 in einer heutigen österreichischen Kleinstadt und mehr als 20.000/km2 in einer internationalen Metropole vergleichen kann. In der zugegeben schwierigen Frage der altsteinzeitlichen Lebenserwartung kehrt Pettitt nicht mehr von einer Abschweifung zurück und verzichtet auf das Nennen einer Zahl. Im Licht anderer Fachpublikationen darf aber davon ausgegangen werden, dass es deutlich weniger als die Hälfte des heutigen Schnitts von 73 Jahren war.
  • Daraus schließt dieser Blogger (NICHT Pettitt), daß “rebus sic stantibus” der damalige Energiezufluss in Form von Sonnenlicht nicht mehr Menschen am Leben erhalten konnte und dass es einer Kombination von (ernsthafter) großer Erderwärmung und systematischen Ackerbaus bedurfte, um Lebensmittelaufbringung und Bevölkerungszahl deutlich zu steigern.

“Malthusianische Falle”

Letzteres fand, wie bekannt, nach dem Ende des Pleistozän statt, als nach ein paar Jahrtausenden die agrarischen Gesellschaften entstanden, die energetisch freilich noch Holz “zufütterten” (das auch eine Art geronnenes Sonnenlicht darstellt).

Vorhandene Biomasse- bzw. Holzressourçen und technologische Fortschritte ermöglichten über 8.000 Jahre einen beschränkten weiteren Bevölkerungszuwachs sowie Imperiums-Bildungen

- dies aber mit einem “klaren Deckel”.

Der “Malthusianischen Falle” konnte bis ins 19. Jahrhundert keine Gesellschaft entrinnen. Dann übernahmen die “fossilen Energien”, zuerst in Form von Kohle und alles änderte sich.

Bis jetzt.

Paul Pettitt, Homo Sapiens Rediscovered: The Scientific Revolution Rewriting Our Origins, 2023

Unabhängiger Journalist

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