Zweiter Weltkrieg: Der böse Adi & der verschmitzte Onkel Joe

Für Generationen prokommunistischer Historiker hat Adolf Hitler “Polen überfallen”, während der Diktator aus der Sowjetunion bloß “in Ostpolen einmarschiert ist”.  Der cover_weberreale Unterschied zwischen den beiden bestand 1939 jedenfalls nicht in der Skrupellosigkeit des Vorgehens, sondern darin, dass der deutsche Diktator die Beschlüsse der Siegermächte des Ersten Weltkriegs “revidierte”, wohingegen der Moskowiter “Versailles erfüllte”Karte_Polen_(1945) (dafür brach Onkel Joe diese “Friedensordnung” ein halbes Jahr später im Baltikum, als alle bereits sicher waren, dass der Hauptschurke Hitler hieß). Deshalb wird Letzterer eher dämonisiert – und Stalin gehätschelt.

Vorbemerkung: Dieser Blogger verwendet als Grundlage seines Postings Claudia Webers vor einem Monat erschienenes Buch Der Pakt. Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz 1939 – 1941.

Während er mit einzelnen Urteilen und Darstellungen nicht konform geht, ist anzuerkennen, dass die Autorin, eine Professorin in Frankfurt an der Oder, eine direkt und indirekt quellenbasierte Gesamtdarstellung vorgelegt hat, die auf dem neuesten Stand ist.

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Der Hitler-Stalin-Pakt hat sich im öffentlichen Gedächtnis als der am 23. August 1939 unterschriebene Nichtangriffs-Verrtrag zwischen Hitler-Deutschland und der Sowjetunion eingegraben, was wenigstens eine Ungenauigkeit ist,

denn das gesamte pactum bestand aus zwei Verträgen – einem von Ende August und einem von Ende September 1939 (eigene Hervorhenung):

Für die Praxis des Hitler-Stalin-Pakts, die deutsch-sowjetische Zusammenarbeit und die gemeinsamen Aktionen der kommenden Monate, war der Grenz- und Freundschaftsvertrag, den Ribbentrop, Stalin und Molotow dort nächtelang aushandelten, von größerer Bedeutung als das Vertragswerk vom August.”

Die eigentliche Pointe der Vereinbarungen lag in geheim gehaltenen Zusatzprotokollen, die Moskau erst nach 51 Jahren, knapp vor dem Ende der Sowjetunion, als authentisch anerkannte.

Aus diesen geht unzweideutig hervor, dass im (nicht näher ausgeführten) Fall einer Auflösung der staatlichen Strukturen der Zweiten Polnischen Republik

    • deren Staatsgebiet zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion aufgeteilt werden solle (wobei eher von Einflussphären, denn von offenen Annexionen die Rede ist) und dass die
    • Sowjetunion danach freie Hand bezüglich Finnland und der drei kleinen baltischen Staaten haben solle (vier Monate später griff die UdSSR Finnland tatsächlich an – “Winterkrieg 1939/40″ – und ein halbes Jahr danach rückte sie in Estland, Lettland und Litauen ein – Letzteres war im ersten Zusatzprotokoll noch Deutschland zugeschlagen worden).

In Polen führte der Pakt zur vierten Teilung” – Polen, das 1919 in Versailles wiedererstanden war, nach ca. 130 Jahren.

Versailles, Hitler & Stalin

Dieser “Friede” beruhte auf einer inzwischen unhaltbar gewordenen Zuweisung der Alleinschuld an das Deutsche Kaiserreich, dem auch sonst unverhältnismäßig schwere Bürden auferlegt wurden (eigentlich dessen Nachfolgerin, der Weimarer Republik).

Gegen die in Paris geschaffene neue Staatenordnung wurde von den Benachteiligten dieses Systems rebelliert – am offensten vom deutschen Reichskanzler Adolf Hitler, der sich nach 1933 über militärische und territoriale Bestimmungen von Versailles hinwegsetzte (wobei er ein paar gute Argumente geltend machen konnte).

Der Einmarsch der Deutschen in Polen war so ein “Hinwegsetzen über Versailles”, ein weiteres.

Über die Friedenskonferenz von Versailles, in der Kriegsverlierer Deutschland Ostgebiete verloren hatte, die es sich 1939 zurück holte – (und “ein bisschen mehr”): Danzig, Westpreußen, den “Warthegau” und einen kleinen Teil von Schlesien.

Die ethnisch deutsch dominierten Gebiete des neuen Polen wurden ein bisserl später annektiert, d.h. dem Deutschen Reich einverleibt.

Damit war – wie man heute beschönigend formulieren würde – ein “ethnic cleansing” verbunden.

Das heißt, die Nazis vertrieben Polen, Juden & andere Nicht-Volksdeutsche ins Generalgouvernement, ein in Mittelpolen geschaffenes “Protektorat”, von dem die Deutschen damals noch nicht wussten, was damit geschehen solle.

In den Gebieten, aus denen diese Menschen deportiert wurden, sollten Volksdeutsche neu angesiedelt werden, aus dem “Altreich”, aber auch z.B. aus dem Baltikum oder der Sowjetunion (was im Pakt mit Stalin vereinbart worden war).

Das war ein Vorgang von großer Brutalität und Claudia Weber schildert diesen ausführlich.

Bis Mitte März 1941, als es Hans Frank und der Wehrmacht angesichts eines unbeherrschbaren Chaos, fehlender Unterbringungs- und Transportmöglichkeiten gelang, die Transporte vorläufig zu stoppen, waren wenigstens 365.000 Personen aus den ‘reichsdeutschen’ Gebieten an den Rand der deutschen Interessensphäre zwangsdeportiert worden.”

Dieses Unrecht wurde und wird den Nazis (pauschal oft “den Deutschen”) bis heute angekreidet, zu Recht.

Polen, Balten, Finnen

Die Wehrmacht hat die militärische Voraussetzung dafür geschaffen, indem sie die polnische Armee in nur fünf Wochen restlos besiegte.

Die Rote Armee war daran kaum beteiligt – sie rückte erst ab 17. September  in jene Gebiete vor, die ihnen im Hitler-Stalin-Pakt als Einflusssphäre zugeschlagen worden waren.

Das passierte erst, nachdem sie von Berlin wiederholt zum Losschlagen aufgefordert worden war und nachdem Gerüchte über einen Separatfrieden mit den Polen/Westalliierten entstanden waren.

Stalin sorgte im zweiten Abkommen sogar dafür, dass die Sowjetunion mit der militärischen Zerschlagung Polens möglichst nicht in Verbindung gebracht werden konnte, indem er darauf bestand “östlich des Bug“, der sogenannten Curzon-Linie zu bleiben.

Anders als im August vereinbart worden war, schlug Stalin den sowjetischen Verzicht auf Warschau und die mittelpolnischen Gebiete bis zum Bug vor.”

Klarerweise wollte der Generalsekretär des ZK der KPdSU eine Gegenleistung dafür:

Stattdessen beanspruchte er die Kontrolle über Litauen, das nach dem geheimen Zusatzprotokoll eigentlich zur deutschen Zone gehörte.”

Obwohl das manchmal so dargestellt wurde, war Stalin also kein “Friedensapostel”, noch war das Regime, das er in “seiner Einflusszone” errichtete, weniger brutal als das deutsche in den westlichen Landesteilen – eher im Gegenteil.

Siehe dazu Claudia Weber oder diesen Wikipedia-Artikel (man kann auch Katyn oder NKWD googeln).

Stalin-Apologeten wenden hier manchmal ein, dass die sowjetischen Deportationen wenigstens nicht nach ethnischen (“rassistischen”) Kriterien erfolgten, aber das

  • stimmt in Weißrussland nicht und war, wo es stimmte,
  • einem anderen “Strukturprinzip” der Sowjetunion geschuldet. Die UdSSR war per definitionem kein monoethnisches Gebilde wie Hitlers Deutschland, sondern ein “Zusammenschluss sozialistischer Brudervölker”. Stalins NKWD “massakrierte mit Handkuss” auch Westukrainer, die keine Russen waren. Ob das dem Nazi-Terror politisch-moralisch überlegen ist, sei dahingetellt.

Jedenfalls blieb der sowjetische Diktator – was Polen betrifft – bei einem Territorium, das

  • schon zum Zarenreich gehört hatte und das
  • auch die Siegermächte des Ersten Weltkriegs Russland zugeschlagen hatten (nicht technisch in Versailles, aber faktischAlliierter Oberster Kriegsrat). Der polnische General Józef Pilsudski hatte danach der jungen Sowjetunion Gebiete abgerungen, die a) östlich der Curzon-Linie lagen und die b) mehrheitlich ethnisch-russisch oder “osteuropäisch-westukrainisch” waren. Sie wurden 1921 von Polen annektiert. Diese Territorien holte Stalin nach dem Pakt mit Hitler in die Sowjetunion (man könnte schlampig und ein bisschen falsch sagen: “zurück nach Russland”).

Wir gelangen mit Bezug auf Polen also zu folgendem Bild:

  • Die Rote Armee hat sich, erstens, nicht proaktiv an der militärischen Zerschlagung der Zweiten Polnischen Republik beteiligt (sondern diese “Drecksarbeit” den Deutschen überlassen) und sie hat sich
  • zweitens auf ein Territorium beschränkt, das “immer schon russisch war” – was auch in Versailles anerkannt wurde.

War Onkel Joe nicht vielleicht doch ein Friedensengel?

Großbritannien, die USA und die Sowjetunion

Dieser Blogger sagt Nein, denn:

Stalin schnupfte für seine “Vorleistung”

  • die bis 1940 unabhängigen baltischen Staaten auf, die bis 1917 Teil des Zarenreichs und danach der neuen Nachkriegsordnung von Versailles gewesen waren (zunächst über aufgenötigte  “Beistandsverträge” und im Sommer 1940 mit glatter Annexion).
  • das gleiche gilt auch für Finnland, wenn auch nicht ganz. Im Winterkrieg 1939/40 überfiel der spätere famose Bundesgenosse von Großbritannien, den USA und Frankreich das 1917 vom Zarenreich unabhängig gewordene Finnland – holte sich trotz extrem unterschiedlicher Kräfteverteilung aber eine blutige Nase. Finnland musste einen Teil seines Staatsgebiets an Russland abgeben, der Rest behielt aber seine Staatlichkeit und Souveränität. Auch die alleinige “Zuständigkeit der Sowjetunion” für Finnland war im Hitler-Stalin-Pakt vereinbart worden.

Die Westalliierten, die ein Jahr später den “von Hitler überfallenen” Stalin in ihre Arme schlossen, machten dabei keinen Mucks – geschweige denn, dass sie der Sowjetunion ihre unverrückbare Feindschaft erklärten wie z.B. Hitler-Deutschland.

Stalin hatte zwar auch das System Versailles verletzt, aber er war zum damaligen Zeitpunkt das “richtige Schwein”, das bis 1945 das “falsche Schwein” schlachten geholfen hat.

Das sowjetische Schwein war jedenfalls reputierlich genug um gemeinsam mit Roosevelt und Churchill fotografiert zu werden.

 1024px-Joseph_Stalin,_Franklin_D_Roosevelt_and_Winston_Churchill,_in_Teheran,_1943,_edit

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Dieser ganze Vorgang hat “ein G’schmäckle” um es auf Schwäbisch auszudrücken

- und es stellt sich zum Beispiel die Frage, ob Winston Churchill den Botschafter von FDR erst am 21. Juni 1941 beharken musste, Onkel Joe

eine trilaterale Allianz gegen Hitler anzubieten, inklusive umfangreicher Wirtschaftshilfen und einer militärischen Unterstützung, ohne die Stalin den für sein Land existentiellen Kampf nicht gewinnen konnte.”

Claudia Weber stellt das so dar – wohl in Ermangelung anders lautender Archivalien.

Aber das ist vielleicht die Folge davon, dass solche (noch) nicht entdeckt wurden.

Vielleicht, weil die, die über einschlägige Dokumente verfügen könnten, nicht daran interessiert sind, dass diese ans Licht der Öffentlichkeit kommen;

nicht die ehemaligen Westalliierten UK und USA – ebensowenig wie die Russische Föderation, die auch heute den Mythos vom Großen Vaterländischen Krieg nicht bekleckern will.

Literatur:

Claudia Weber, Der Pakt. Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz 1939–1941. 2019

Bild: Christoph Lange, Image:Map of Poland (1945).png von Adam Carr, jetzt deutsch beschriftet, Oulds, D C (Lt), Royal Navy official photographer [Public domain] via Wikimedia Commons

Unabhängiger Journalist

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