Der freiheitliche EU-Abgeordnete Andreas Mölzer hat die EU nicht nur als “Negerkonglomerat” bezeichnet, sondern sie auch mit dem Deutschen Reich Hitlers verglichen. Dieser zweite Teil des Vergleichs ist nur wenig beachtet worden, obwohl (weil?) er in der Version Mölzers kaum etwas zur Erkenntnisfindung beiträgt. Zartbesaitete Naturen, die die Union noch immer für das größte Friedensprojekt der vergangenen Jahrhunderte halten, hat er trotzdem erschüttert: “Jo, derf er denn dös?”
Diesen hat der Historiker Oliver Rathkolb Trost gespendet. Er erläuterte, dass
“das Spielen mit dem NS-Thema und der Versuch das mit der Gegenwart zu vergleichen, auch wenn es überhaupt nicht zusammenpasst, und eine historisch gesehen völlig absurde Vergleichsebene ist, dazu beiträgt, Wähler auch zu mobilisieren.”
Rathkolb meinte das natürlich nicht allgemein, sondern nur die NS-Vergleiche einer Richtung, die das nicht kann und darf, weil sie nicht dafür qualifiziert ist. Er ist weit entfernt davon, jene allgegenwärtige politisch-rhetorische Praxis zu kritisieren, die Lästerzungen respektlos als “hitlern” bezeichnen. Das würde nämlich die Kreise jener Seite stören, die als die gute empfunden wird. Das Malen von Hitlerbärtchen auf Plakate abgelehnter zeitgenössischer Politiker etc. ist jedenfalls keine “völlig absurde Vergleichsebene”.
Der Wiener Zeithistoriker ging auf den eher seltsamen Vergleich Mölzers zwischen der heutigen EU-Wirtschaft und der Planwirtschaft des Dritten Reichs nicht ein. Verglichen mit der Kriegswirtschaft ab 1939 müsste der heutige Status quo jedenfalls superdooper liberal sein – aber das ist eben ein Urteil, das fundiert nur jemand fällen kann, der sich genauer mit den Fakten beschäftigt hat.
Um es gleich vorwegzuschicken: Klarerweise sind EU und Drittes Reich nicht identisch (was einen Vergleich ja überflüssig machen würde). Ein wesentlicher Unterschied besteht z.B. darin, dass in der heutigen EU (noch) eine gewisse, relative Rechtsssicherheit herrscht und dass rassisch oder politisch unerwünschte Gruppen (noch) nicht staatlich verfolgt werden. Die Union mag sich zwar auf dem Weg dorthin befinden, sie ist heute aber noch kein Polizeistaat.
Ein Vergleich zwischen der Europäischen Union und Hitlerdeutschland ist in wenigstens einer Hinsicht aber doch recht erhellend – was den gesamteuropäischen Anspruch der beiden Gebilde und die Folgen für die Souveränität der beherrschten Völker betrifft. Schließlich handelt es sich beim Dritten Reich um den vorvorletzten Versuch, die europäische Frage über eine “Einigung von oben” zu lösen. Würde man in den Kategorien des Mittelalters denken, könnte man vielleicht sogar den Begriff Translatio Imperii verwenden.
Auch der olle Adolf war ein glühender Europäer, wie z.B. aus den Monologen in der Wolfsschanze zu ersehen ist. Sein Ziel war ein geeintes Europa mit Deutschland in der Rolle eines zurückhaltenden Hegemons: “Wenn man mit den Mitteln der Gewalt Europas Einigung geschmiedet habe, müsse man aber wissen, dass Europa auf die Dauer die Hegemonie einer Nation wie die Deutschlands nur in der Form des ‘Primus inter Pares’ – also ähnlich der Stellung Preußens im Bismarck-Reich – ertrage. Selbst in den am stärksten nach Einheit lechzenden Zeiten des Mittelalters habe Europa nie geduldet, daß eine Nation direkt über die anderen herrsche, beruhten doch Europas Kultur und Zivilisation – also sein ganzes Leben – auf der freien Konkurrenz aller seiner Nationen.” (Henry Picker, Tischgespräche im Führerhauptquartier, 1983, Seite 50.)
Hitler gibt sich hier als Föderalist zu erkennen, der einen gesamteuropäischen Bundesstaat unter der Führung Deutschlands anstrebt; Vorstellungen, die – wie manche meinen – der heutigen EU-Realität recht nahekommen. Hitlers Europavision unterschied sich offenbar ein wenig von den Vorstellungen der SS, vielleicht sogar mehr noch als vom heutigen EU-Föderalismus. Der deutsche Diktator des 20. Jahrhunderts erklärte der verdutzten “Tafelrunde” zudem, er schließe sich in seiner Europa-Schau seinem Vorgänger, dem französischen Diktator des 19. Jahrhunderts, Napoleon Bonaparte an: Potzblitz, Parbleu!
Natürlich waren sowohl dieser Plan als auch jener der SS Tagträume für die Zeit danach, nach dem großen Krieg. Aber schon in der Realität der Kriegs sind beide Einigungskonzepte vorweggenommen worden. Das begann bei der Aufstellung europäischer, nicht-deutscher SS-Divisionen zur Bekämpfung der Sowjetunion sowie Terror und Hunger für den Osten (Großgermanisches Reich) und endete bei der (scheinbar) gleichberechtigten Zusammenarbeit mit abhängigen Regimen westlicher europäischer Länder (Europäischer Bundesstaat).
Wer ein Beispiel für Letzteres will, sollte sich jene Passage in den Memoiren Albert Speers durchlesen, in der der damalige Rüstungsminister ein Treffen mit dem Produktionsminister von Vichy-Frankreich, Jean Bichelonne, schildert. Speers Ziel dabei ist eindeutig: Er will den französischen Beitrag zu den deutschen Kriegsanstrengungen steigern und nimmt dabei in Kauf, dass der Zustrom französischer “Fremdarbeiter” nach Deutschland zum Erliegen kommt (was den Generalbevollmächtigten für die Zwangsarbeit, Fritz Sauckel, mächtig wurmt). Wenn Speers Schilderung hier einigermaßen stimmt, darf man ihn ohne weiteres als Vorläufer der deutsch-französischen Verständigung bezeichnen, die nach dem Krieg unter umgekehrtenVorzeichen in die Gänge kam.
Dass die Nazis der Idee von der europäischen Einigung mehr abgewinnen konnten als ihre Feinde, ist übrigens auch unter Fachhistorikern wie Rathkolb kein Geheimis. Das schreibt zum Beispiel auch der britisch-amerikanische Historiker Mark Mazover:
“Daher sind die Bemühungen mancher Historiker, die Ursprünge des gemeinsamen Markts bis zu Erklärungen während der Kriegsjahre zurückzuverfolgen, letztlich wenig überzeugend und man könnte mit gleicher, wenn nicht größerer Berechtigung argumentieren, dass diese eher bei den Nazis lagen: 1943 waren die Sympathisanten der Achsenmächte eifrigere ‘Europäer’ als ihre Gegner.” (Mazover, Dark continent, 1998; eigene Hervorhebung)
In den 1950er-Jahren fand schließlich der vorletzte Versuch zur Einigung Europa statt – diesmal unter der Vorherrschaft der US-Amerikaner. Und wie 15 Jahre vorher war auch im Kalten Krieg die Sowjetunion der Amboss, auf dem die westeuropäische Einheit geschmiedet werden sollte.
Glücklicherweise geschah das nicht in einem heißen Konflikt. Dieser Einigungsversuch blieb schon in den Kinderschuhen stecken, vielleicht weil Stalin zu früh verstarb, weil sich der frischgebackene Welthegemon auch um andere Gegenden des Erdballs kümmern musste oder sich ernsthaft mit seinen zwei wichigsten europäischen Verbündeten zerstritt. Vielleicht waren es auch nur die verdammten dickschädeligen Europäer selbst. Wer weiß das schon?
Seit 1992 ist der bisher letzte Anlauf unterwegs, aber statt auf Gewalt scheint man sich diesmal auf Kabinettspolitik und List und Tücke verlegt zu haben. Wer bei diesem Durchgang wirklich hinter dem Lenkrad sitzt, ist nur schwer auszumachen – wahrscheinlich jene Reisegesellschaft, die am 18. Jänner 1989 Michail Gorbatschow ihre Aufwartung machte: David Rockefeller, Henry Kissinger, Yasuhiro Nakasone sowie Valery Giscard d’Estaing. Das ist natürlich nicht ad personam gemeint – ein paar von denen sind schon gestorben. Man kann aber auch Trilaterale Kommission zu dieser Gruppe sagen.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte es zunächst so ausgesehen, als müsste die Rolle des welthistorischen Ambosses auf unbestimmte Zeit unbesetzt bleiben und das war bis in die jüngste Vergangenheit ein Problem für eine bestimmte Politik, die sich aus der Ausbeutung von Widersprüchen nährt.
Wenn die fromme Legende der NATO, der Wille zur Selbstverteidigung, realitätshaltig gewesen wäre, hätte diese Organisation in den 1990er-Jahren in eine tiefe Sinn- und Existenzkrise schlittern und sich auflösen müssen. Inzwischen scheint sich Russland aber wieder auf der internationalen Bühne zurückgemeldet zu haben, “Gottseidank”.
Waldimir Konstantinowitsch Bukowski mag Recht gehabt haben, als er die Entstehung eines neuen Sowjetstaats prophezeite. Und wohl auch damit, die Schaffung der EU mit dem Ende bzw. dem Gestaltwechsel der Sowjetunion in Zusammenhang zu bringen.
Es scheint sich dabei aber weniger um die unilaterale Kriegslist einer Partei gehandelt zu haben. Wahrscheinlich war es eher eine symmetrische Bewegung, deren Bedeutung sich selbst dem Verständnis der scharfsinnigsten heutigen Beobachter entzieht. Der Bukowski der 1990er-Jahre hat jedenfalls nur eine Seite der Medaille wahrgenommen.
Fotos: JLogan, Wikimedia Commons, Andrees Handatlas, San Jose, Wikimedia Commons
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